Posthumous Essays and Fragments
1879-1924
GA 46
From Notebook 511, undated, circa 1896.
Automated Translation
31. On Nietzsche
Nietzsche admired the greatness of the personalities and the impulsive natures of the ancient philosophers. It took the greatest courage of thought to think the thoughts that were thought in the tragic age of the Greeks: by Thales, Heraclitus, Anaxagoras. No one understands these sages unless they can build up a picture of their personalities from their thoughts. We are not interested in their teachings, but in their characters. We are drawn to explore their questions, to find out what kind of person Heraclitus was, because we have the feeling that his philosophy was only a condition of life that Heraclitus had to create for himself in order to be able to exist. One can wander through dreary stretches of modern philosophical history; nowhere is there such a necessary connection between character and the world of ideas. With most of the philosophers of the present day, one has the feeling that they pursue philosophy as an external business; one can also imagine them without this business. Indeed, the connection between the world of the senses and the personality rarely interests them. They strive for “objective truth,” that is, for that insipid and weak construct that arises from cowardly thinking, because not the whole personality is active when philosophizing. The ancient philosophers before Socrates were artists. And Nietzsche is another such philosophical artist. Only a fool would choose him as a master and swear by his words. Only the artistically sensitive person can gain a relationship with Nietzsche. He created his world of ideas like the ancient philosophers of the tragic age, because he needed it to live. Truth for him is not what can be supported by the strict proofs of school logic, but what proves to him to be life-promoting.
He does not prove his views, he tries them out on his own body to see if he can live with them. His rich, bold, deep nature needed dangerous truths to sustain itself. This is the charm of Nietzsche's writings: they always point us to the great man who creates a zest for life in them. A nature as rare and lonely as Nietzsche's could not easily get along with the world. He erected his thoughts between himself and the world in order to be able to endure the world.
Not the rigid thinking, not the so-called scientific drive, but the mood conjures up Nietzsche's thoughts. They detach themselves from him as products of the personality. All thoughts that go beyond a mere description of actual observation arise in this way. It's just that those who believe in objective truths don't have enough insight to understand this.
Even their most objective truths are the products of subjective personalities, only tailored for a certain average way of life. Objectivity means nothing more than being suitable for a large number of people to live by. But the select personality needs select truths. The more objective a truth is, i.e., the more universally valid it is, the more trite it is. Anyone who demands that we accept their truths must also assume that we are similar personalities to them. It follows that only the most stale truths can be universally valid.
If a god could write a philosophy, it would presumably contain all objective truth; but for us mere humans, it would be irrelevant because we do not see the world from an absolute, divine center, but rather from our own individual vantage point. We would presumably not know what to do with a divine truth that was not tailored to our point of view.
31. Über Nietzsche
Nietzsche bewunderte an den alten Philosophen die Größe der Persönlichkeit, das impulsive ihrer Naturen. Es gehörte der höchste Mut des Denkens dazu, um Gedanken zu denken, wie sie im tragischen Zeitalter der Griechen gedacht worden sind: von Thales, Heraklit, Anaxagoras. Niemand versteht diese Weisen, der nicht aus ihren Gedanken sich das Bild ihrer Persönlichkeiten aufbauen kann. Nicht ihre Lehren interessieren uns, sondern ihre Charaktere. Es zieht uns an, ihren Fragen nachzuforschen, welcher Art die Person des Heraklit war, denn wir haben das Gefühl, dass seine Philosophie nur eine Lebensbedingung war, die Heraklit sich schaffen musste, um existieren zu können. Man kann öde Strecken der neuern Philosophiegeschichte durchwandern; nirgends ist ein solch notwendiger Zusammenhang von Charakter und Ideenwelt. Bei den meisten Philosophen der Gegenwart hat man das Gefühl: Sie betreiben Philosophie wie ein äußerliches Geschäft; man kann sich sie auch ohne dieses Geschäft denken. Ja, der Zusammenhang der Sinnewelt mit der Persönlichkeit interessiert selten. Sie streben nach «objektiver Wahrheit» d.i. nach jenem saft- und kraftlosen Gebilde, das aus einem feigen Denken entspringt, weil nicht die ganze Persönlichkeit beim Philosophieren tätig ist. Die alten Philosophen vor Sokrates waren Künstler. Und Nietzsche ist wieder ein solcher Philosophie-Künstler. Ein Tor nur kann ihn sich zum Meister wählen und auf seine Worte schwören wollen. Nur der Künstlerisch-Empfindende kann ein Verhältnis zu Nietzsche gewinnen. Seine Ideenwelt hat er sich geschaffen wie die alten Philosophen des tragischen Zeitalters, weil er sie brauchte zum Leben. Wahrheit ist für ihn nicht, was durch die strengen Beweise der Schullogik gehalten werden kann, sondern was sich für ihn als lebenfördernd erweist.
Er beweist seine Ansichten nicht, er probiert am eigenen Leibe, ob sich mit ihnen leben lässt. Seine reiche, kühne, tiefe Natur brauchte gefährliche Wahrheiten, um sich aufrechtzuerhalten. Dies ist der Reiz von Nietzsches Schriften, dass sie uns stets auf den großen Menschen hinweisen, der sich in ihnen eine Lebenslust schafft. Eine so seltene, zur Einsamkeit veranlagte Natur wie Nietzsche eine war, konnte nicht ohne Weiteres mit der Welt auskommen. Er errichtete zwischen sich und der Welt seine Gedanken, um die Welt ertragen zu können.
Nicht das starre Denken, nicht der sogenannte wissenschaftliche Trieb, sondern die Stimmung zaubert Nietzsches Gedanken hervor. Sie lösen sich von ihm ab als Erzeugnisse der Persönlichkeit. Alle Gedanken, die über eine bloße Beschreibung der tatsächlichen Beobachtung hinausgehen, entstehen auf diesem Wege. Nur haben diejenigen, die an objektive Wahrheiten glauben, nicht Scharfblick genug, um das zu begreifen.
Auch ihre objektivsten Wahrheiten sind Erzeugnisse von subjektiven Persönlichkeiten, nur zugeschnitten für ein gewisses Durchschnittsmaß der Lebensführung. Objektivität heißt weiter nichts, als für eine große Zahl von Menschen zum Leben brauchbar. Die auserlesene Persönlichkeit braucht aber auserlesene Wahrheiten. Je objektiver eine Wahrheit ist, d.h. je allgemeingültiger sie ist, desto platter ist sie. Wer von uns verlangt, dass wir seine Wahrheiten annehmen, der muss auch voraussetzen, dass wir mit ihm gleichgeartete Persönlichkeiten seien. Daraus schon folgt, dass nur die schalsten Wahrheiten die allgemeingültigen sein können.
Könnte ein Gott eine Philosophie schreiben, so enthielte sie vermutlich alle objektive Wahrheit; für uns Menschen wäre sie aber belanglos, weil wir die Welt nicht von einem absoluten, göttlichen Mittelpunkte aus, sondern jeder von seinem individuellen Augpunkte aus sehen. Mit einer nicht für unsern Gesichtspunkt zugeschnittenen göttlichen Wahrheit wüssten wir vermutlich gar nichts anzufangen. (Mein Einwand gegen geoffenbarte Wahrheit).