Collected Essays on Drama 1889–1900
GA 29
Automated Translation
Dramaturgische Blätter 1899, Volume II, 15
38. "Vienna Theater 1892–1898"
In heaven there should be more joy over one convert than over ninety-nine righteous people. In the heaven of aesthetics, where the Viennese critic Ludwig Speidel is the main saint, there must therefore be great joy over the conversion of the former main heretic Hermann Bahr. "This collection of reviews that I wrote about Viennese theater from 1892 to 1898, first in the "Deutsche Zeitung" and then in "Die Zeit", is intended to show how I gradually came to a pure view of dramatic art from uncertain but all the more vehement demands of a rather vague beauty, and how I came to recognize the theater for what it is. I owe this to you alone. Through your words the meaning has opened up to me, from you I have learned what drama is supposed to be, through your great demands I have become free from whims. And you also taught me what our office is, that of criticism, that "sharp handmaiden of production", as you called it: to help the creators. That is why I have asked you to adorn my book with your name." This is how Hermann Bahr introduces his latest book "Wiener Theater (1892-1898)". Ludwig Speidel is the representative of a thoroughly outdated aesthetic view. He is completely alien to the demands placed on us by the modern world view. He is a veteran of the ideas that set the tone in Gustav Freytag's time. Critiques such as he writes today could also have been written around the middle of our century. His school of thought envisioned an art that pursued an abstract ideal of beauty. Friedrich Theodor Vischer professed this ideal in his Aesthetics, which he himself later disavowed. From his point of view, Speidel initially always condemned all newer art movements. He always retreated when the times took sides with these art movements. How did he first treat Gerhart Hauptmann? How does he treat him now? You only have to read the review he wrote about "Lonely People" when it was first performed at the Burgtheater in Vienna. Hermann Bahr took his youthful education entirely from the modern direction. There was a time when he was the critic of "modernism" par excellence. And now he has converted to the views of aesthetic conservatism. There is only one explanation for this: Bahr has never advocated "modernism" from the innermost depths of his soul. He appropriated its buzzwords and traded on them. He always had a strong inclination and also a talent for finding nice smooth formulas for what modern art wants. These formulas did not come from within him. He was playing a dialectical game. That is why conversion is easy for him. His course of development is not a natural one. When he was young, he did not understand the aesthetics of Vischer and Speidel. But he fought against them. Others took this aesthetic as their starting point. On the basis of these aesthetics, they dealt with the legitimate principles of art. Due to the one-sidedness of these principles, they initially did not understand the tasks of the new art. Today they understand its demands. They judge the new according to the standard provided by the good old aesthetics and which they have developed accordingly. As a result, they have arrived at a just judgment. They cannot convert to Speidel. For the work of their lives is to go beyond Speidel and arrive at a modern aesthetic. When they judge the "modern", their judgment contains the element of the old aesthetic, which was justified.
Hermann Bahr's aesthetic never had this element in it. And his new aesthetic will probably be no less superficial than his old one. It seems less like a further development than a bankruptcy. He will now put into nice smooth formulas what Speidel's opinion is, just as he used to put into nice smooth formulas what Ibsen's opinion is.
«WIENER THEATER 1892–1898»
Im Himmel soll mehr Freude sein über einen Bekehrten als über neunundneunzig Gerechte. In dem Himmel der Ästhetik, in dem der Wiener Kritiker Ludwig Speidel Hauptheiliger ist, muß daher die Freude groß sein über die Bekehrung des einstigen Hauptketzers Hermann Bahr. «Diese Sammlung von Rezensionen, die ich, von 1892 bis 1898, erst in der «Deutschen Zeitung, dann in der «Zeit» über Wiener Theater geschrieben habe, soll zeigen, wie ich von unsicheren, aber desto heftigeren Forderungen einer recht vagen Schönheit nach und nach doch zu einer reinen Ansicht der dramatischen Kunst gekommen bin und das Theater, was denn sein Wesen ist, erkannt habe. Dies verdanke ich Ihnen allein. Durch Ihre Worte ist mir der Sinn aufgegangen, von Ihnen habe ich gelernt, was das Drama soll, durch Ihre großen Forderungen bin ich von den Launen frei geworden. Und Sie haben mich auch gelehrt, was unser, der Kritik, dieser «scharfen Magd der Produktiom, wie Sie sie geheißen haben, Amt ist: den Schaffenden zu helfen. Darum habe ich Sie gebeten, mein Buch mit Ihrem Namen schmücken zu dürfen.» So leitet Hermann Bahr sein neuestes Buch «Wiener Theater (1892-1898)» ein. Ludwig Speidel ist der Vertreter einer durchaus veralteten ästhetischen Auffassung. Den Forderungen, die uns die moderne Weltanschauung in den Sinn legt, steht er ganz fremd gegenüber. Veteran der Gedanken, die in der Zeit Gustav Freytags tonangebend waren, ist er. Kritiken, wie er sie heute schreibt, könnten auch um die Mitte unseres Jahrhunderts geschrieben worden sein. Seiner Ideenrichtung schwebt eine Kunst vor, die einem abstrakten Schönheitsideale nachjagt. Friedrich Theodor Vischer hat in seiner Ästhetik, die er später selbst desavouiert hat, sich zu diesem Ideale bekannt. Speidel hat von seinem Gesichtspunkte aus alle neueren Kunstrichtungen zunächst immer verdammt. Er ist stets zurückgewichen, wenn die Zeit für diese Kunstrichtungen Partei genommen hat. Wie hat er Gerhart Hauptmann erst behandelt? Wie behandelt er ihn jetzt? Man braucht nur die Rezension zu lesen, die er bei Gelegenheit der Erstaufführung im Wiener Burgtheater über die «Einsamen Menschen» geschrieben hat. Hermann Bahr har seine Jugendbildung ganz aus der modernen Richtung geholt. Es gab eine Zeit, in der er der Kritiker der «Moderne» par excellence war. Und jetzt hat er sich zu den Anschauungen des ästhetischen Konservatismus bekehrt. Es gibt dafür nur eine Erklärung: Bahr hat niemals aus dem innersten Grund seiner Seele heraus die «Moderne» vertreten. Er hat sich ihre Schlagwörter angeeignet und mit ihnen gewirtschaftet. Er hatte immer eine starke Neigung und auch Begabung, dafür nette glatte Formeln zu finden, was die moderne Kunst will. Aus dem Wesen seines Innern kamen diese Formeln nicht. Ein dialektisches Spiel hat er getrieben. Deshalb wird ihm auch die Bekehrung leicht. Sein Entwickelungsgang ist kein natürlicher. Als er jung war, hat er die Ästhetik der Vischer und Speidel nicht verstanden. Aber er hat sie bekämpft. Andere gingen gerade von dieser Ästhetik aus. Sie haben sich auf Grund dieser Ästhetik mit den berechtigten Grundsätzen der Kunst auseinandergesetzt. Aus der Einseitigkeit dieser Grundsätze heraus haben sie zunächst die Aufgaben der neuen Kunst nicht verstanden. Heute verstehen sie ihre Forderungen. Sie beurteilen das Neue nach dem Maßstabe, den ihnen die gute alte Ästhetik geliefert und den sie entsprechend fortgebilder haben. Dadurch sind sie zu einem gerechten Urteile gekommen. Sie können sich nicht zu Speidel bekehren. Denn die Arbeit ihres Lebens ist, über Speidel hinaus, zu einer modernen Ästhetik zu kommen. Wenn sie über die «Moderne» urteilen, so hat ihr Urteil das Element der alten Ästhetik in sich, das berechtigt war.
Hermann Bahrs Ästhetik hatte dieses Element nie in sich. Und seine neue Ästhetik wird wohl nicht weniger oberflächlich sein als seine alte. Sie erscheint weniger als Fortentwickelung denn als Bankerott. Er wird nunmehr in nette glatte Formeln bringen, was Speidels Ansicht ist, wie er früher in nette glatte Formeln gebracht hat, was Ibsens Meinung ist.