Collected Essays on Drama 1889–1900
GA 29
Automated Translation
Magazin für Literatur 1898, Volume 67, 45
98. “Fuhrmann Henschel”
Play in five acts by Gerhart Hauptmann
Performance at the Deutsches Theater, Berlin
Gerhart Hauptmann's mature art has transformed an everyday, almost uninteresting event into a drama that we follow from act to act with ever-increasing devotion and which, despite the apparent indifference of the subject matter, leaves us with the feeling that we have made a new experience of what is called human destiny. Hauptmann's art definitely has something that points to the artist's delicate hands. Hauptmann does not know a rough grasping and shaping of people and actions so that they correspond to the artist's intention. Hauptmann does not know the Shakespearean way of always doing violence to things in order to bring them into the dramatic framework. He obviously loves the things he treats too much for that. He sees their form, their life with the finest artistic sense. The simple, plain truth of the facts is revealed to his inquiring gaze, his feelings resting selflessly on the objects; and when he places this simple, plain truth in front of people, only then do they realize how wrong and false they themselves see the same facts.
The carter Henschel lives in a Silesian seaside resort in the 1960s. He is a well-behaved, honest man, up to his job, loved by his servants and the townspeople. But he is weak-willed and not very clever towards the people who take advantage of his weakness. The maid Hanne also lives in his house. She is a person who will not shy away from any criminal act if it can lead her to seize control of Henschel's house. Henschel's wife is ill and soon dies. The child Henschel has by this woman also dies. While all this is happening, Hanne catches the carter in her nets. He marries her, despite having promised his dying wife that he would never do so. The way Hanne behaves gives rise to the justified suspicion in the village that the first wife and her child have been taken away from her. She betrays the good Henschel with a waiter. The way in which the poor man is informed of his second wife's infidelity by his acquaintances at the inn and how he is driven to despair and voluntary death when he is certain is of unspeakable dramatic effect in Hauptmann's portrayal.
We are dealing with simple, undifferentiated people and with a plot that follows perfectly straight lines. Only an artist like Gerhart Hauptmann, who sees simplicity in its greatness because he sees it in its truth, can show how shocking such people and such actions can be. Just let a moralizing or idealizing poet come across the same material: it would be a runaway hit.
There is a feminine trait in Hauptmann's poetic talent. It has been noted that in the course of their married life, women gradually adopt a handwriting that becomes more and more similar to that of their husband. So it is with Hauptmann's dramatic style. It becomes more and more similar to the features in which nature creates. Compare this development with that of Schiller, for example. The latter is increasingly searching for an artistic style, for a mode of creation with higher laws than those found in nature. Schiller is the male poet who wants to create style; Hauptmann is the female genius who waits until she has conceived what she is to give birth to. I am not speaking in Schiller's favor, nor do I want to say anything to Hauptmann's disadvantage. For perhaps poetry is a feminine expression of the psyche and only philosophy the outflow of the truly masculine. Then poets with masculine traits would only really be philosophical natures who express themselves through the medium of poetry. And perhaps Hauptmann's poetry only appears so unphilosophical because he is a real poet!
The performance at the Deutsches Theater is worthy of recognition in every respect. The direction was up to the style of the work and the actors gave exemplary performances. The only thing one could do would be to copy out the note to say a word of praise for each name, if one did not want to do injustice to the other by mentioning one. But Rudolf Rittner (Fuhrmann Henschel) and Else Lehmann (Hanne) must be mentioned, because they solved the two most difficult tasks in the best possible way.
«FUHRMANN HENSCHEL»
Schauspiel in fünf Akten von Gerhart Hauptmann
Aufführung im Deutschen Theater, Berlin
Eine alltägliche, fast möchte ich sagen uninteressante Begebenheit hat Gerhart Hauptmann durch seine reife Kunst zu einem Drama gestaltet, dem wir von Akt zu Akt mit immer gesteigerter Hingebung folgen, und das uns trotz der scheinbaren Gleichgültigkeit des Stoffes mit der Empfindung entläßt, daß wir über das, was man Menschenschicksal nennt, eine neue Erfahrung gemacht haben. Hauptmanns Kunst hat unbedingt etwas, was auf zarte Hände des Künstlers weist. Ein derbes Zufassen und ein Formen der Menschen und Handlungen, damit sie der Absicht des Künstlers entsprechen, kennt Hauptmann nicht. Die Shakespearesche Art, die den Dingen immer Gewalt antut, um sie in den dramatischen Rahmen zu bringen, die kennt Hauptmann nicht. Dazu hat er offenbar die Dinge, die er behandelt, zu lieb. Ihre Gestalt, ihr Leben sieht er mit dem feinsten Künstlersinne. Seinen forschenden Blicken, seinem selbstlos auf den Gegenständen ruhenden Gefühle enthüllt sich die einfache, schlichte Wahrheit der Tatsachen; und wenn er diese einfache, schlichte Wahrheit vor die Menschen hinstellt, dann werden diese erst gewahr, wie falsch und erlogen sie selbst die gleichen Tatsachen sehen.
In einem schlesischen Badeort lebt — in den sechziger Jahren — der Fuhrmann Henschel. Er ist ein braver, biederer Mann, seinem Geschäfte gewachsen, von seinen Knechten und den Bewohnern des Ortes geliebt. Aber er ist von schwacher Willenskraft und nicht sehr klug den Menschen gegenüber, die seine Schwäche ausnützen. In seinem Hause lebt auch die Magd Hanne. Sie ist eine Person, die vor keiner verbrecherischen Tat zurückschreckt, wenn diese sie dazu führen kann, das Regiment im Henschelschen Hause an sich zu reißen. Henschels Frau ist krank und stirbt bald. Auch das Kind, das Henschel von dieser Frau hat, stirbt. Während dies alles geschieht, fängt Hanne den Fuhrmann in ihre Netze ein. Er heiratet sie, trotzdem er seiner sterbenden Gattin das Versprechen gegeben hat, dies niemals zu tun. Die Weise, wie sich Hanne beträgt, läßt im Dorfe die berechtigte Vermutung aufkommen, daß die erste Frau und deren Kind von ihr weggeräumt worden sind. Den guten Henschel hintergeht sie mit einem Kellner. Die Art nun, wie der arme Mann im Gasthof von seinen Bekannten auf die Untreue seines zweiten Weibes hingewiesen wird und wie er, als er Gewißheit hat, in die Verzweiflung und in den freiwilligen Tod getrieben wird, sind in Hauptmanns Darstellung von unsäglich dramatischer Wirkung.
Mit einfachen, undifferenzierten Menschen haben wir es zu tun und mit einer Handlung, die in durchaus geraden Linien verläuft. Wie erschütternd solche Menschen und solche Handlungen sein können: das kann nur ein Künstler wie Gerhart Hauptmann zeigen, der die Einfachheit in ihrer Größe sieht, weil er sie in ihrer Wahrheit sieht. Man lasse nur einen moralisierenden oder idealisierenden Dichter über den gleichen Stoff kommen: es wäre zum Davonlaufen.
In Hauptmanns dichterischer Begabung liegt ein weiblicher Zug. Man hat bemerkt, daß Frauen im Verlaufe ihres Ehelebens allmählich eine Handschrift annehmen, die derjenigen ihres Mannes immer ähnlicher wird. So etwa ist es mit Hauptmanns dramatischem Stil. Er wird den Zügen, in denen die Natur schafft, immer ähnlicher. Man vergleiche diesen Entwickelungsgang zum Beispiel mit dem Schillers. Dieser sucht immer mehr nach einem Kunststil, nach einer Schaffensweise mit höheren Gesetzen, als sie in der Natur vorhanden sind. Schiller ist der männliche Dichter, der den Stil schaffen will; Hauptmann ist das weibliche Genie, das da wartet, bis es empfangen hat, was es gebären soll. Ich spreche damit weder zugunsten Schillers, noch will ich im geringsten etwas zum Nachteil Hauptmanns sagen. Denn vielleicht ist Dichtkunst überhaupt eine weibliche Äußerung der Psyche und nur Philosophie der Ausfluß des Wahrhaft-Männlichen. Dann wären Dichter mit männlichen Zügen nur eigentlich Philosophennaturen, die sich durch das Mittel der Dichtkunst aussprechen. Und Hauptmanns Dichtung erscheint vielleicht nur deshalb so unphilosophisch, weil er ein wirklicher Dichter ist!?
Die Aufführung im Deutschen Theater ist in jeder Beziehung aller Anerkennung wert. Die Regie war dem Stil des Werkes gewachsen, und die Darsteller boten mustergültige schauspielerische Leistungen. Den Zettel abschreiben, um bei jedem Namen ein lobendes Wort zu sagen, wäre das einzige, was man tun könnte, wenn man nicht durch Nennung des einen dem andern unrecht tun wollte. Aber Rudolf Rittner (Fuhrmann Henschel) und Else Lehmann (Hanne) müssen genannt werden, weil sie die beiden schwierigsten Aufgaben in der denkbar besten Weise gelöst haben.