Goethe and the Present
GA 68c
22 November 1889, Vienna
Automated Translation
I. What Weimar's Goethe Archive Means to us, from Personal Experience
Public lecture in Vienna, November 22, 1889
Report in the “Chronik des Wiener Goethe-Vereins” of January 20, 1890.
On Friday, November 22, 1889, Mr. Rudolf Steiner opened the series of Goethe evenings with a highly interesting lecture on the “Goethe Archive in Weimar”.
Mr. Steiner is entrusted with the publication of Goethe's scientific writings and had the opportunity to study the Goethe Archive in detail over the summer. He described in detail the natural history collection exhibited in the Goethe House and emphasized the great value of the scientific legacy. From it it would become clear by what route the poet had climbed to the heights of light, and that the master had been a tireless researcher in every field and was considered the spiritual center of the age.
The lecturer started from the idea that we have a twofold task to fulfill in relation to Goethe. One of these is to grasp and appreciate the poet's magnificent appearance in all its aspects, to understand the origin of his writings from his soul life and to put the relationships of his works to each other in the proper light. But this purely historical side of the matter achieves only the lesser part of what we have to achieve in relation to Goethe. The far more important part is to be found in the fact that we, insofar as it is the task of each and every one of us, participate in the further development of our culture in the sense that has been opened up to us by Goethe. The cultural perspective that he has opened up for the future must be ours. We have to follow the lines of thought that find a magnificent beginning in him; we have to approach the questions of science, art, and the state from his point of view. We have to work our way up to that kind of vision through which he gained such penetrating insights, but through which he also found the blissful calm of the truly wise in the face of all the disharmonies of life. And this is the goal of the Goethe-Schiller Archives in Weimar. Whoever enters this classical place will be overcome by a breath of that mighty ethos that emanates from Goethe and spreads through all his works. Those who enter the workshop of Goethe's poetry and thought, who are able to follow in the footsteps of the spirit that led to the heights of his creativity by the hand of the treasures he left behind, will find their inner selves mightily uplifted by the impact of the ideal seriousness and high morality of Goethe's life and world view. He sees how every idea of this genius goes back to spiritual struggles that he has undergone in his inner being, how every conviction he has expressed is the conclusion of a spiritual process that we can follow in very many cases. We can often see from the notes he has jotted down the exact moment when an idea flashes in his mind, which then had a fruitful effect on his work. In particular, Goethe's scientific significance will be more clearly revealed to us through the Weimar publications than has been the case so far. The sheer shallowness that has so far dared to approach Goethe in a judgmental manner will be contemptuously rejected by all educated people, for whom new insights will arise from Weimar's handwritten treasures.
We also have important things to expect from the diaries. They will not only give us precise insights into the poet's external life, but also into the process of his inner development. They will show how he progresses from stage to stage, up to that “spiritual Montserrat” where he feels misunderstood and lonely, but enlightened by the deepest ideas. Goethe kept records not only of his external life, but above all of his inner life.
But the correspondence is also of particular importance. The intellectual life in Germany from 1790 to 1832 appears as a mighty organism, of which Goethe is the soul. He exerts a direct personal influence on the most important contemporaries, and they in turn have an effect on him. This magnificent network of intellectual interests will only become clear through the correspondence.
Above all, the publication of Goethe's scientific writings, diaries and correspondence will be an immortal monument erected by Weimar's high-minded princess. This is proof that in Weimar they know how to promote the legacy of the great German with just as much understanding as they once understood how to create the basis for the man on which he could build his way up to the heights of humanity.
It is thanks to Professor Suphan, the humane and amiable director of the archive, and to Schiller's noble descendants that, just over a year ago, Schiller's estate was also incorporated into the archive. Schiller belongs to Goethe. Through Schiller, the nation was finally opened up to Goethe. His view of the great friend is the ideal of all Goethe research.
I. Was Weimars Goethe-Ärchiv Uns Ist, Aufgrund Persönlicher Erfahrung
Bericht in der «Chronik des Wiener Goethe-Vereins» vom 20. Januar 1890
Freitag, den 22. November 1889 eröffnete Herr Rudolf Steiner die Reihe der Goethe-Abende mit einem hochinteressanten Vortrage über das «Goethe-Archiv in Weimar».
Herr Steiner ist mit der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes betraut und hatte im Sommer Gelegenheit, das Goethe-Archiv eingehend zu studieren. Er schilderte ausführlich die im Goethe-Hause ausgestellte naturhistorische Sammlung und wies nachdrücklich auf den hohen Wert des wissenschaftlichen Nachlasses hin. Aus ihm werde klar werden, auf welchem Wege der Dichter die Höhen des Lichtes erklommen, und dass der Meister auf jedem Gebiete ein unermüdlicher Forscher gewesen und als geistiger Mittelpunkt des Zeitalters gegolten habe.
Der Vortragende ging von dem Gedanken aus, dass wir Goethe gegenüber eine zweifache Aufgabe zu erfüllen haben. Die eine bestehe darin, die großartige Erscheinung des Dichters allseitig zu erfassen und zu würdigen, die Entstehung seiner Schriften aus seinem Seelenleben zu begreifen und die Beziehungen seiner Werke zueinander in das gehörige Licht zu setzen. Mit dieser rein historischen Seite der Sache sei aber nur der geringere Teil dessen erreicht, was wir Goethe gegenüber zu erreichen haben. Der weit wichtigere sei darin zu suchen, dass wir, soweit es Aufgabe eines jeden Einzelnen von uns ist, an der Fortentwicklung unserer Kultur in dem Sinne teilnehmen, der uns durch Goethe erschlossen worden ist. Die Kulturperspektive, die er für die Zukunft eröffnet hat, müsse die unsere sein. Wir haben den Gedankengängen, die bei ihm einen großartigen Anfang finden, nachzugehen; wir haben die Fragen der Wissenschaft, der Kunst, des Staates von seinem Standpunkte aus der Lösung zuzuführen. Wir müssen uns emporarbeiten zu jener Art des Schauens, durch die ihm so eindringende Erkenntnisse aufgegangen sind, durch die er aber auch gegenüber allen Disharmonien des Lebens die selige Ruhe des wahrhaft Weisen gefunden hat. Darinnen aber müsse Weimars Goethe-Schiller-Archiv Führer werden. Wer diese klassische Stätte betritt, den überkomme ein Hauch jenes gewaltigen Ethos, das von Goethe ausgehend sich über all seine Werke ausbreitet. Wer da hineinblickt in die Werkstätte des Goethe’schen Dichtens und Denkens, wer an der Hand der hinterlassenen Schätze die Wege nachzugehen in der Lage ist, die jener Geist gewandelt, um die Höhe seines Schaffens zu erreichen, dessen Inneres wird mächtig emporgehoben unter der Einwirkung des ideellen Ernstes und der hohen Sittlichkeit der Goethe’schen Lebensführung und Weltauffassung. Er sehe, wie jede Idee dieses Genius zurückgeht auf geistige Kämpfe, die er in seinem Innern durchgemacht hat, wie jede Überzeugung, die er ausgesprochen, der Abschluss eines Geistesprozesses ist, den wir in sehr vielen Fällen genau verfolgen können. Wir können an den hingeworfenen Notizen oft ganz genau den Augenblick sehen, wo eine Idee in seinem Geiste aufblitzt, die dann fruchtbringend auf sein Schaffen eingewirkt hat. Namentlich werde Goethes wissenschaftliche Bedeutung durch die Weimarer Publikationen klarer vor unseren Blicken stehen, als das bis jetzt der Fall sein konnte. Die bare Flachheit, die sich bis nun noch immer richtend an Goethe heranwagt, werde verächtlich abgewiesen werden von allen Gebildeten, denen aus Weimars handschriftlichen Schätzen neue Einsichten aufgehen werden.
Wichtiges haben wir auch von den Tagebüchern zu erwarten. Sie werden uns ja genaue Aufschlüsse nicht nur über das äußere Leben des Dichters, sondern auch über den Entwicklungsprozess seines Innern bringen, sie werden zeigen, wie er von Stufe zu Stufe fortschreitet, bis zu jenem «geistigen Montserrat», wo er sich zwar unverstanden und einsam, aber dafür von den tiefsten Ideen erleuchtet fühlt. Goethe habe nicht nur über sein äußeres, sondern vor allem über sein inneres Leben Buch geführt.
Von besonderer Bedeutung sei aber auch der Briefwechsel. Das geistige Leben in Deutschland von 17901832 nehme sich wie ein gewaltiger Organismus aus, dessen Seele Goethe ist. Von ihm geht ein unmittelbar persönlicher Einfluss auf die bedeutendsten Zeitgenossen aus, und diese wirken wieder auf ihn zurück. Dieses großartige Netz geistiger Interessen wird der Briefwechsel erst klar machen.
Die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Schriften, Tagebücher und des Briefwechsels Goethes werden vor allem ein unsterbliches Denkmal sein, das sich Weimars hochsinnige Fürstin setzt. Damit sei der Beweis geliefert, dass man in Weimar mit ebenso viel Verständnis die Hinterlassenschaft des großen Deutschen zu fördern weiß, wie man einst verstanden hat, dem Manne die Grundlage zu schaffen, auf der er seinen Bau zu den Höhen der Menschheit aufführen konnte.
Es sei das Verdienst Professor Suphans, des humanen, liebenswürdigen Direktors des Archivs, und der edlen Nachkommen Schillers, dass seit etwas mehr als einem Jahre auch Schillers Nachlass dem Archiv einverleibt ist. Schiller gehöre zu Goethe. Durch Schiller sei ja der Nation der Weg zu Goethe erst recht eröffnet worden. Wie er den großen Freund betrachtete, das sei das Ideal aller Goethe-Forschung.