Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen
GA 16
Nachwort zur Neuauflage [1918]
[ 1 ] Es kann wohl schon aus den Ausführungen der zweiten dieser «Meditationen» klar sein und wird aus den folgenden mit noch größerer Deutlichkeit zu erkennen sein, dass der Seelenweg, von dem in dieser Schrift gesprochen wird, in entschiedenster Weise alles auf krankhaften oder abnormen Leibesverhältnissen beruhende sogenannte «Hellsehen» ablehnt. Alles Visionäre, Mediumistische, das aus solchen Verhältnissen heraus entsteht, bleibt auf diesem Seelenweg ausgeschlossen. Solche Seeleninhalte gehen aus einer Verfassung des menschlichen Innern hervor, gegenüber welcher das sinnliche Wahrnehmen und das darauf gestützte Denken ein höheres Gebiet darstellen. Man lebt mit diesem Wahrnehmen und diesem Denken mehr in dem übersinnlichen Gebiet und man ist mit ihm mehr vom Leibe unabhängig, als dies der Fall ist, wenn eine unregelmäßige Leibesorganisation der Seele einen Inhalt vorgaukelt, der aus Vorgängen entspringt, die eigentlich dem Leibe dienen sollten, und die in krankhafter Art von ihrer naturgemäßen Aufgabe abirren und zu Vorstellungen führen, die weder in einer Wahrnehmung von außen, noch in einer eigenen Betätigung des Willens ihre Grundlage haben.
[ 2 ] Unter den im gewöhnlichen Bewußtsein anwesenden Seelenverrichtungen ist es nur das Denken, das sich von der Wahrnehmung loslösen und zur selbständigen, nicht an abnorme Leibesäußerungen bedingten Betätigung führen kann. Nicht unter diejenige Seelenverfassung herunter, tiefer in die organischen Verrichtungen hinein geht, was hier als hellsehendes Schauen gemeint ist, sondern in Gebiete geht es hinauf, die mit dem von der Seele innerlich durchhellten, vom Eigenwollen beherrschten Denken beginnen. Aus diesem selbstbeherrschten Denken heraus entwickelt die Seele das hier gemeinte hellseherische Schauen. Das Denken ist für das Schauen Vorbild. Was in den «Meditationen» als solches Schauen beschrieben wird, unterscheidet sich allerdings ganz wesentlich vom bloßen Denken. Und es führt hinein in übersinnliche Weltenerfahrungen, in welche dieses Denken nicht dringen kann. Aber das Leben, das die Seele entfaltet in diesem Schauen, darf kein anderes sein als das im Denken entwickelte. Mit derselben Bewußtheit, mit der die Seele in einem Gedanken lebt, mit der sie von einem zum andern Gedanken übergeht, muß sie in den Schauungen, in den Erleuchtungen leben.
[ 3 ] Das Verhältnis der Seele zu diesen Schauungen ist allerdings ein wesentlich anderes als dasjenige zu den gewöhnlichen Gedanken. Wenn auch die seelische Beziehung einer Schauung auf die ihr entsprechende Wirklichkeit Ähnlichkeit hat mit der Beziehung einer Erinnerungsvorstellung zu der erlebten Wirklichkeit, an die sie erinnert, so ist doch ein Bedeutsames im Schauen gerade dies, dass während dessen Tätigkeit die Kraft der Erinnerung in der Seele gar nicht wirksam ist. Was man einmal vorgestellt hat, daran kann man sich erinnern, auch wenn die Vorstellung ein bloßes Phantasiegebilde ist. Was man in hellseherischem Schauen erfahren hat: das ist in dem Augenblicke dem Bewußtsein entschwunden, in dem die Schauung aufhört, wenn man nicht zu der seelischen Kraft des Schauens auch noch die andere hinzuentwickelt hat, in der Seele wieder dieselben Bedingungen des Schauens herzustellen, welche zu dieser Schauung geführt haben. Man kann sich an diese Bedingungen erinnern und kann dadurch die Schauung wiederholen; aber man kann sich nicht unmittelbar an die Schauung erinnern. Wer sich die notwendige Einsicht in diese Dinge verschafft hat, der hat gerade an dieser Einsicht ein Mittel, die Wirklichkeit, welche seiner Schauung entspricht, als solche zu erkennen. Wie man sich an eine Wahrnehmung, an ein Erlebnis erinnern kann, mit dieser Erinnerung aber das Erlebnis, die Wahrnehmung nicht selbst durchgemacht werden, so ist mit dem, was bei der Schauung für die Erinnerung verbleibt, nicht der wirkliche Inhalt dieser Schauung enthalten. Man kann daran erkennen, dass ebensowenig, wie die wirkliche Wahrnehmung eine bloße Illusion im Sinnesgebiet ist, so auch die der Schauung entsprechende übersinnliche Wirklichkeit dies nicht ist. Menschen, die sich mit dem Wesen des hier gemeinten Schauens nicht genügend bekanntgemacht haben und die das darüber Vorgebrachte nur von außen, nach ihren vorgefaßten Meinungen beurteilen, verfallen in dieser Beziehung in einen Irrtum. Sie glauben, dass was im hellsichtigen Bewußtsein auftritt, auf einem Spiel der Phantasie oder einem Weben von Vorstellungen beruhen könne, das aus unterbewußten Tiefen der Seele wie unklare Erinnerungen heraufflutet. Solche Beurteiler wissen nicht, dass das wahrhaft hellseherische Bewußtsein nur in solchen Seeleninhalten lebt, die niemals als solche in die organischen Tiefen untertauchen können, die schon bei ihrer Entstehung dem Schicksal widerstreben, von irgendeiner Erinnerungskraft erfaßt zu werden.
[ 4 ] Eine weitere Eigentümlichkeit des hellseherischen Lebens ist die, dass sein Verlauf in wichtigen Kennzeichen abweicht von demjenigen des gewöhnlichen Seelenlebens. In diesem spielen die Übung, die Gewöhnung eine für das Menschenleben fruchtbare Rolle. Wer wiederholt eine gewisse Betätigung ausführt, der steigert seine Fähigkeit, diese Betätigung in geschickter Weise auszuführen. Wie wäre Fortschritt im Leben, in der Kunst, wie wäre irgendein Lernen überhaupt möglich, wenn nicht solcher Gewinn der menschlichen Geschicklichkeit durch Übung erreicht werden könnte. Ein Gleiches gilt aber nicht für die Aneignung des hellseherischen Schauens. Wer eine übersinnliche Erfahrung gemacht hat, der ist dadurch nicht geschickter geworden, sie ein zweitesmal zu machen. Hat er sie einmal gehabt, so ist dies ein Grund, dass sie von ihm fortstrebt. Sie sucht ihn gewissermaßen zu fliehen. Und er muß zu besonderen Seelenverrichtungen seine Zuflucht nehmen, die für ein wiederholtes Erfahren seine Seele mit einer stärkeren Kraft ausstatten als diejenige war, die ihn das erstemal in den Stand gesetzt hat, die Erfahrung zu machen. Für Anfänger auf dem übersinnlichen Seelenweg liegt in dieser Tatsache oft eine Quelle schwerer Enttäuschungen. Man kann bei entsprechenden Übungen, welche in dem in dieser Schrift angedeuteten Sinne zur Seelenverstärkung führen, verhältnismäßig leicht erste übersinnliche Erfahrungen machen. Man ist dann erst erfreut über den gemachten Fortschritt. Allein man wird bald bemerken, dass sich die gleichen Erfahrungen nicht wiederholen. Man fühlt sich dann in der Seele dem Übersinnlichen gegenüber wie leer. Was in Betracht kommt, ist, dass man sich klar darüber sein muß: dieselben Anstrengungen, die zum erstenmal zu dem Ergebnis geführt haben, wirken nicht ein zweitesmal, sondern stärkere, oft ganz andere. - Man muß sich eben zu der Einsicht durchringen, dass die Gesetze des übersinnlichen Erlebens in vielen Fällen andere, oft entgegengesetzte sind gegenüber den physischen. Aber man muß sich auch wieder hüten, daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, dass man über das übersinnliche Erleben etwas wissen könne dadurch, dass man seine Vorgänge etwa immer als eine Umkehrung entsprechender sinnlicher denkt. Wie die Dinge im einzelnen stehen, muß eben in jedem individuellen Falle durch übersinnliche Erfahrung durchschaut werden.
[ 5 ] Ein drittes Kennzeichen des übersinnlichen Erfahrens ist dieses, dass die Schauungen kaum einen bemeßbaren Zeitinhalt hindurch vor dem hellseherischen Bewußtsein aufleuchten. Man kann sagen: in dem Augenblicke, in dem sie auftreten, sind sie auch schon wieder entflohen. Das bewirkt, dass nur rasche Besinnung, rasche Einstellung der Aufmerksamkeit zum Bemerken wahrer Schauungen führte. Wer solche rasche Besinnung und Aufmerksamkeitseinstellung nicht unter seinen Seelenfähigkeiten entwickelt, der mag Schauungen haben; er erlangt kein Wissen davon. Darin liegt der Grund, warum von den Menschen die übersinnliche Welt in einem so großen Umfange verleugnet wird, als es der Fall ist. Das übersinnliche Erleben ist wirklich viel verbreiteter, als man gewöhnlich denkt. Der Verkehr des Menschen mit der geistigen Welt ist im Grunde etwas ganz Allgemein-Menschliches. Aber die Fähigkeit, mit rasch wirkender Bewußtseinskraft diesen Verkehr erkennend zu verfolgen, muß mühsam erworben werden. Man kann sich für diese Fähigkeit im gewöhnlichen Leben geeignet machen, wenn man sich darin übt, in gewissen Lebenslagen aus raschem Überblicken dessen, was vorliegt, einen Entschluß zum Handeln zu fassen. Wer in solchen Lebenslagen sich stets an ein immer wiederkehrendes Umdrehen des Entschlusses, an ein zu nichts als Zeitverlust führendes Zaudern: «Soll ich, soll ich nicht» gewöhnt, der wird aus diesem gewöhnlichen Leben heraus sich nur in schlechter Art für die Beobachtung der geistigen Welt vorbereiten können. Wer dazu kommt, schon in diesem Leben, wenn es angebracht ist, Geistesgegenwart zu entwickeln, der wird diese in das übersinnliche Erleben hineintragen können, in dem sie ein unbedingtes Erfordernis ist. - Lägen in dem Menschen, so wie er im gewöhnlichen Leben ist, die Fähigkeiten des übersinnlichen Erlebens, er wäre für seine Aufgabe in der Sinneswelt untüchtig. Er kann in heilsamer Art zu übersinnlichen Fähigkeiten nur kommen, wenn er diese aus einem gesunden Leben in der sinnlichen Wirklichkeit heraus entwickelt. Wer durch Abkehr von diesem Leben, durch Sonderlings-Eigenschaften glaubt, der übersinnlichen Welt nahe zu kommen, der ist auf einem Irrwege. Wahres hellseherisches Schauen verhält sich zu den gesunden Verrichtungen des gewöhnlichen Bewußtseins wie dieses sich zu dem Schlafbewußtsein, dessen Inhalt in Träumen vor die Seele tritt, verhält. Wie aber durch ein ungesundes Schlafleben das gewöhnliche Bewußtsein gestört und untergraben wird, so kann auf der Grundlage einer lebensfeindlichen, lebensunpraktischen Haltung in der gewöhnlichen Wirklichkeit kein gesundes hellseherisches Schauen sich aufbauen. Je fester der Mensch im Leben steht, je verständnisvoller er den Aufgaben des gewöhnlichen intellektuellen, gefühlsmäßigen, moralischen und sozialen Daseins gegenüber sich verhält, desto gesünder wird er aus einer solchen Lebensführung die Seelenfähigkeiten hervorgehen lassen können, welche ihn zum Erleben der übersinnlichen Welten bringen. - Von einem solchen gesunden hellseherischen Schauen wollen die vorangehenden « Meditationen» sprechen. Alles Krankhafte, im üblen Sinne Visionäre und Phantastische ist auf dem Wege nicht zu finden, den sie beschreiben und der in das Erkennen der übersinnlichen Welt mündet.
Afterword to the new edition [1918]
[ 1 ] It may already be clear from the explanations in the second of these "Meditations" and will be even clearer from the following ones that the path of the soul spoken of in this writing rejects in the most decisive manner all so-called "clairvoyance" based on pathological or abnormal bodily conditions. Anything visionary or mediumistic that arises from such conditions is excluded from this path of the soul. Such soul contents emerge from a constitution of the human inner being, compared to which sensory perception and the thinking based on it represent a higher realm. With this perception and this thinking one lives more in the supersensible realm and with it one is more independent of the body than is the case when an irregular body organization deludes the soul with a content that arises from processes that should actually serve the body and that stray in a pathological way from their natural task and lead to ideas that have their basis neither in a perception from outside nor in an own activity of the will.
[ 2 ] Among the mental processes present in ordinary consciousness, it is only thought that can detach itself from perception and lead to independent activity that is not conditioned by abnormal bodily manifestations. What is meant here as clairvoyant seeing does not descend below the state of the soul that goes deeper into the organic processes, but rather ascends into areas that begin with thinking that is inwardly illuminated by the soul and dominated by self-will. From this self-controlled thinking the soul develops the clairvoyant seeing meant here. Thinking is the model for seeing. However, what is described in the "Meditations" as such seeing is very different from mere thinking. And it leads into supersensible world experiences into which this thinking cannot penetrate. But the life that the soul unfolds in this seeing must be no other than that developed in thinking. With the same awareness with which the soul lives in one thought, with which it passes from one thought to another, it must live in the visions, in the illuminations.
[ 3 ] The relationship of the soul to these visions is, however, essentially different from that to ordinary thoughts. Even if the soul's relationship of a vision to the reality corresponding to it is similar to the relationship of an idea of memory to the experienced reality of which it is a reminder, a significant aspect of vision is precisely that during its activity the power of memory is not effective in the soul at all. What one has once imagined can be remembered, even if the imagination is a mere fantasy. What one has experienced in clairvoyant vision disappears from consciousness the moment the vision ceases, if one has not developed the other power in addition to the psychic power of vision, namely, to re-establish in the soul the same conditions of vision which led to this vision. One can remember these conditions and thereby repeat the vision; but one cannot remember the vision directly. Whoever has gained the necessary insight into these things has a means of recognizing as such the reality that corresponds to his vision. Just as one can remember a perception, an experience, but with this memory the experience, the perception itself is not experienced, so what remains with the vision for the memory does not contain the real content of this vision. It can be seen from this that just as real perception is not a mere illusion in the sensory field, neither is the supersensible reality corresponding to the vision. People who have not familiarized themselves sufficiently with the nature of the vision meant here and who judge what is presented about it only from the outside, according to their preconceived opinions, fall into error in this respect. They believe that what occurs in clairvoyant consciousness can be based on a play of the imagination or a weaving of ideas that flood up from the subconscious depths of the soul like unclear memories. Such judges do not know that the truly clairvoyant consciousness lives only in such contents of the soul which can never submerge as such into the organic depths, which already resist the fate of being seized by any power of memory when they arise.
[ 4 ] Another peculiarity of clairvoyant life is that its course differs in important characteristics from that of the ordinary life of the soul. In the latter, exercise and habituation play a fruitful role in human life. Whoever repeatedly performs a certain activity increases his ability to perform this activity in a skillful manner. How would progress in life, in art, how would any learning be possible at all if such a gain in human skill could not be achieved through practice? The same does not apply to the acquisition of clairvoyant vision. Whoever has had a psychic experience has not thereby become more adept at having it a second time. If he has had it once, this is a reason why it strives away from him. It seeks to flee from him, as it were. And he must take recourse to special soul practices which, for a repeated experience, endow his soul with a stronger power than that which enabled him to have the experience the first time. For beginners on the supersensible path of the soul, this fact is often a source of serious disappointment. It is relatively easy to have one's first supersensible experiences with appropriate exercises that lead to soul strengthening in the sense indicated in this book. You will then be delighted with the progress you have made. But you will soon realize that the same experiences are not repeated. You will then feel as if your soul is empty in the face of the supersensible. What comes into consideration is that one must realize that the same efforts that led to the result the first time do not work a second time, but stronger, often quite different ones. - One must come to the realization that the laws of supersensible experience are in many cases different, often opposite to the physical ones. But one must also be careful not to draw the conclusion that one can know anything about the supersensible experience by thinking of its processes as a reversal of corresponding sensory ones. How things stand in each individual case must be seen through in each individual case through supersensible experience.
[ 5 ] A third characteristic of supersensible experience is that the visions hardly light up before the clairvoyant consciousness for a measurable period of time. One can say: the moment they appear, they have already fled again. This means that only quick reflection, quick attunement of the attention leads to the realization of true visions. He who does not develop such quick reflection and attentiveness among his soul faculties may have visions; he does not attain knowledge of them. This is the reason why people deny the supersensible world to such a great extent as is the case. The supersensible experience is really much more widespread than is usually thought. Man's contact with the spiritual world is basically something quite common to mankind. But the ability to follow this communication with a rapidly acting power of consciousness must be laboriously acquired. One can make oneself suitable for this ability in ordinary life if one practises making a decision to act in certain life situations from a quick overview of what is present. Whoever in such situations in life becomes accustomed to a recurring reversal of the decision, to a dithering that leads to nothing but loss of time: "Should I, should I not", will only be able to prepare himself in a bad way for the observation of the spiritual world out of this ordinary life. He who comes to develop presence of mind already in this life, when it is appropriate, will be able to carry it into the supersensible experience, in which it is an absolute necessity. - If man, as he is in ordinary life, lacked the faculties of supersensible experience, he would be incapable of his task in the sensory world. He can only attain supersensible abilities in a wholesome way if he develops them from a healthy life in sensual reality. Anyone who believes that he can come close to the supersensible world by turning away from this life, through eccentric qualities, is on the wrong path. True clairvoyant vision relates to the healthy activities of the ordinary consciousness in the same way as the latter relates to the consciousness of sleep, the contents of which appear before the soul in dreams. But just as the ordinary consciousness is disturbed and undermined by an unhealthy sleeping life, so no healthy clairvoyant vision can develop on the basis of a hostile, impractical attitude in ordinary reality. The more firmly a person stands in life, the more sympathetic he is to the tasks of ordinary intellectual, emotional, moral and social existence, the healthier he will be able to allow the soul faculties to emerge from such a way of life which will enable him to experience the supersensible worlds. - The preceding "Meditations" are intended to speak of such healthy clairvoyant vision. Anything pathological, visionary or fantastic in the worst sense is not to be found on the path they describe, which leads to the recognition of the supersensible world.