Goethes Naturwissenschaftliche Schriften
GA 1
12. Goethe und die Mathematik
[ 1 ] Zu den Haupthindernissen, die einer gerechten Würdigung von Goethes Bedeutung für die Wissenschaft entgegenstehen, gehört das Vorurteil, das über sein Verhältnis zur Mathematik besteht. Dieses Vorurteil ist ein doppeltes. Einmal glaubt man, Goethe sei ein Feind dieser Wissenschaft gewesen und habe ihre hohe Bedeutung für das menschliche Erkennen in arger Weise verkannt; und zweitens behauptet man, der Dichter habe jede mathematische Behandlungsweise aus den physikalischen Teilen der Naturlehre, die er gepflegt, nur deshalb ausgeschieden, weil sie ihm, der sich keiner Kultur in der Mathematik erfreute, unbequem war.
[ 2 ] Was den ersten Punkt betrifft, so ist dagegen zu sagen, daß Goethe wiederholt in so entschiedener Weise seiner Bewunderung der mathematischen Wissenschaft Ausdruck gegeben hat, daß von einer Geringschätzung derselben durchaus nicht die Rede sein kann. Ja, er will die gesamte Naturwissenschaft von jener Strenge durchdrungen wissen, die der Mathematik eigen ist. «Die Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären..» (Natw. Schr.., 2. Bd.., S. 19) «Ich hörte mich anklagen, als sei ich ein Widersacher, ein Feind der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher schätzen kann als ich... .» [Ebenda S. 45]
[ 3 ] Was den zweiten Vorwurf betrifft, so ist er ein solcher, daß ihn kaum jemand im Ernste erheben kann, der einen Einblick in Goethes Wesen getan hat. Wie oft hat sich denn nicht Goethe gegen das Beginnen problematischer Naturen ausgesprochen, die Zielen zustreben, unbekümmert darum, ob sie sich damit innerhalb der Grenzen ihrer Fähigkeiten bewegen! Und er selbst sollte dieses Gebot überschritten, er sollte naturwissenschaftliche Ansichten aufgestellt haben, mit Hinwegsetzung über seine Unzulänglichkeit in mathematischen Dingen? Goethe wußte, daß der Wege zum Wahren unendlich viele sind, und daß ein jeder jenen wandeln kann, der seinen Fähigkeiten gemäß ist, und er kommt ans Ziel. «Jeder Mensch muß nach seiner Weise denken: denn er findet auf seinem Wege immer ein Wahres, oder eine Art von Wahrem, die ihm durchs Leben hilft; nur er darf sich nicht gehen lassen; er muß sich kontrollieren.. ..» («Sprüche in Prosa» [Natw., Schr.., 4. Bd.., 2. Abt.., S. 460]). «Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt; aber selbst schöne Vorzüge werden verdunkelt, aufgehoben und vernichtet, wenn jenes unerläßlich geforderte Ebenmaß abgeht..» [Ebenda S. 443]
[ 4 ] Es wäre lächerlich, wenn man behaupten wollte, Goethe habe, um überhaupt etwas zu leisten, sich auf ein Feld begeben, das außerhalb seines Gesichtskreises lag. Es kommt alles darauf an, festzustellen, was Mathematik zu leisten hat, und wo ihre Anwendung auf Naturwissenschaft beginnt. Darüber hat Goethe nun wirklich die gewissenhaftesten Betrachtungen angestellt. Der Dichter entwickelt da, wo es sich darum handelt, die Grenzen seiner produktiven Kraft zu bestimmen, einen Scharfsinn, der nur noch von seinem genialischen Tiefsinn übertroffen wird. Darauf möchten wir vor allem jene aufmerksam machen, die über Goethes wissenschaftliches Denken nichts anderes zu sagen wissen, als daß ihm die logischreflektierende Denkweise abging. Die Art, wie Goethe die Grenze zwischen der naturwissenschaftlichen Methode, die er anwendete, und jener der Mathematiker bestimmte, verrät eine tiefe Einsicht in die Natur der mathematischen Wissenschaft. Er wußte genau, welches der Grund der Gewißheit mathematischer Lehrsätze ist; er hatte sich eine klare Vorstellung darüber gebildet, in welchem Verhältnisse die mathematische zu der übrigen Naturgesetzlichkeit steht.
[ 5 ] Soll eine Wissenschaft überhaupt einen Erkenntniswert haben, so muß sie uns ein bestimmtes Wirklichkeitsgebiet erschließen. Es muß sich in ihr irgendeine Seite des Weltinhalts ausprägen. Die Art, wie sie das tut, bildet den Geist der betreffenden Wissenschaft. Diesen Geist der Mathematik mußte Goethe kennen, um zu wissen, was in der Naturwissenschaft ohne Hilfe des Kalküls zu erreichen ist, und was nicht. Hier liegt der Punkt, auf den es ankommt. Goethe selbst hat mit aller Bestimmtheit darauf hingewiesen. Die Art, wie er es tut, verrät eine tiefe Einsicht in die Natur des Mathematischen..
[ 6 ] Wir wollen auf diese Natur näher eingehen. Gegenstand der Mathematik ist die Größe, das, was ein Mehr oder Weniger zuläßt. Die Größe ist aber nichts an sich selbst Bestehendes. Es gibt im weiten Umkreise menschlicher Erfahrung kein Ding, das nur Größe ist. Neben anderen Merkmalen hat jedes Ding auch solche, die durch Zahlen zu bestimmen sind. Da die Mathematik sich mit Größen beschäftigt, hat sie zu ihrem Gegenstande keine in sich vollendeten Erfahrungsobjekte, sondern nur alles das von ihnen, was sich messen oder zählen läßt. Sie sondert alles, was sich der letzten Operation unterwerfen läßt, von den Dingen ab. So erhält sie eine ganze Welt von Abstraktionen, innerhalb welcher sie dann arbeitet. Sie hat es nicht mit Dingen zu tun, sondern nur mit Dingen, insofern sie Größen sind. Sie muß zugeben, daß sie da nur eine Seite des Wirklichen behandelt, und daß die letztere noch viele andere Seiten hat, über die sie keine Macht hat. Die mathematischen Urteile sind keine Urteile, die wirkliche Objekte voll umfassen, sondern sie haben nur innerhalb der ideellen Welt von Abstraktionen Gültigkeit, die wir selbst als eine Seite der Wirklichkeit von der letzteren begrifflich abgesondert haben. Die Mathematik abstrahiert die Größe und die Zahl von den Dingen, stellt die ganz ideellen Bezüge zwischen Größen und Zahlen her und schwebt so in einer reinen Gedankenwelt. Die Dinge der Wirklichkeit, insofern sie Größe und Zahl sind, erlauben dann die Anwendung der mathematischen Wahrheiten. Es ist also ein entschiedener Irrtum, zu glauben, daß man mit mathematischen Urteilen die Gesamtnatur erfassen könne. Die Natur ist eben nicht bloß Quantum; sie ist auch Quale, und die Mathematik hat es nur mit dem ersteren zu tun. Es müssen sich die mathematische Behandlung und die rein auf das Qualitative ausgehende in die Hände arbeiten; sie werden sich am Dinge, von dem sie jede eine Seite erfassen, begegnen. Goethe bezeichnet dieses Verhältnis mit den Worten: «Die Mathematik ist wie die Dialektik ein Organ des inneren höheren Sinnes; in der Ausübung ist sie eine Kunst wie die Beredsamkeit. Für beide hat nichts Wert als die Form; der Gehalt ist ihnen gleichgültig. Ob die Mathematik Pfennige oder Guineen berechne, die Rhetorik Wahres oder Falsches verteidige, ist beiden vollkommen gleich..» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr.., 4. Bd., 2. Abt.., S. 405). Und «Entwurf einer Farbenlehre» 724 [ebenda 3. Bd.., S. 277]: «Wer bekennt nicht, daß die Mathematik, als eines der herrlichsten menschlichen Organe, der Physik von einer Seite sehr vieles genutzt?» In dieser Erkenntnis sah Goethe die Möglichkeit, daß ein Geist, der sich in Mathematik keiner Kultur erfreut, sich mit physikalischen Problemen befassen kann. Er muß sich auf das Qualitative beschränken.
12 Goethe and mathematics
[ 1 ] One of the main obstacles to a fair appreciation of Goethe's significance for science is the prejudice that exists about his relationship to mathematics. This prejudice is twofold. Firstly, it is believed that Goethe was an enemy of this science and grossly misjudged its great importance for human cognition; and secondly, it is claimed that the poet excluded any mathematical treatment from the physical parts of natural science that he cultivated only because it was inconvenient to him, who enjoyed no culture in mathematics.
[ 2 ] With regard to the first point, however, it must be said that Goethe repeatedly expressed his admiration for mathematical science in such a decisive manner that there can be no question of any disdain for it. Indeed, he wants the whole of natural science to be imbued with the rigor that is characteristic of mathematics. "We have to learn from the mathematicians the recklessness of merely stringing the next thing together, or rather of deducing the next thing from the next thing, and even where we do not make use of a calculation, we must always go about our work as if we owed an account to the strictest geometrician." (Natw. Schr., 2nd vol., p. 19) "I heard myself accused of being an adversary, an enemy of mathematics in general, which no one can value more highly than I do.... ." [ibid. p. 45]
[ 3 ] As far as the second accusation is concerned, it is such that hardly anyone who has had an insight into Goethe's nature can seriously raise it. How often has Goethe not spoken out against the beginning of problematic natures that strive towards goals, regardless of whether they are within the limits of their abilities! And he himself was supposed to have transgressed this commandment, he was supposed to have set up scientific views, disregarding his inadequacy in mathematical matters? Goethe knew that the paths to the true are infinite, and that everyone can take the one that suits his abilities and reach his goal. "Every man must think in his own way: for he always finds on his way a truth, or a kind of truth, which helps him through life; only he must not let himself go; he must control himself.... .." ("Proverbs in Prose" [Natw., Schr., 4th vol., 2nd dept., p. 460]). "The least man can be complete if he moves within the limits of his abilities and skills; but even beautiful advantages are obscured, canceled and destroyed if that indispensable required evenness is missing..." [Ibid. p. 443]
[ 4 ] It would be ridiculous to claim that Goethe, in order to achieve anything at all, entered a field that lay outside his field of vision. It all depends on establishing what mathematics can achieve and where its application to natural science begins. Goethe really did make the most conscientious observations about this. When it comes to determining the limits of his productive power, the poet develops an ingenuity that is only surpassed by his ingenious profundity. We would particularly like to draw the attention of those who know nothing else to say about Goethe's scientific thinking than that he lacked a logically reflective way of thinking. The way in which Goethe defined the boundary between the scientific method he used and that of the mathematicians reveals a deep insight into the nature of mathematical science. He knew exactly what the basis of the certainty of mathematical theorems was; he had formed a clear idea of the relationship between mathematical and other natural laws.
[ 5 ] If a science is to have any cognitive value at all, it must open up a certain realm of reality for us. It must express some aspect of the content of the world. The way in which it does this forms the spirit of the science in question. Goethe had to know this spirit of mathematics in order to know what can and cannot be achieved in natural science without the help of the calculus. This is the point that matters. Goethe himself pointed this out in no uncertain terms. The way he does it reveals a deep insight into the nature of mathematics.
[ 6 ] We want to go into this nature in more detail. The subject of mathematics is size, that which allows for more or less. But size is not something that exists in itself. There is no thing in the wide range of human experience that is only size. In addition to other characteristics, every thing also has characteristics that can be determined by numbers. Since mathematics deals with magnitudes, it has no objects of experience that are complete in themselves, but only everything of them that can be measured or counted. It separates from things everything that can be subjected to the final operation. This gives it a whole world of abstractions within which it then works. It does not deal with things, but only with things insofar as they are quantities. It must admit that it only deals with one side of the real, and that the latter has many other sides over which it has no power. Mathematical judgments are not judgments that fully encompass real objects, but are only valid within the ideal world of abstractions, which we ourselves have conceptually separated from the latter as a side of reality. Mathematics abstracts size and number from things, establishes the entirely ideal relationships between sizes and numbers and thus floats in a pure world of thought. The things of reality, insofar as they are magnitude and number, then allow the application of mathematical truths. It is therefore a decided error to believe that one can grasp the whole of nature with mathematical judgments. Nature is not merely quantum; it is also quale, and mathematics has to do only with the former. The mathematical treatment and the purely qualitative treatment must work into each other's hands; they will meet in the thing of which they grasp each one side. Goethe describes this relationship with the words: "Mathematics, like dialectics, is an organ of the inner higher sense; in its practice it is an art like eloquence. For both, nothing has value but the form; they are indifferent to the content. Whether mathematics calculates pennies or guineas, rhetoric defends the true or the false, is completely the same to both..." ("Proverbs in Prose"; Natw. Schr., 4th vol., 2nd dept., p. 405). And "Entwurf einer Farbenlehre" 724 [ibid. 3rd vol., p. 277]: "Who does not confess that mathematics, as one of the most glorious human organs, is of great use to physics from one side?" In this realization, Goethe saw the possibility that a mind that enjoys no culture in mathematics can deal with physical problems. He must confine himself to the qualitative.