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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Essays on Anthroposophy from the Journals “Lucifer” and “Lucifer-Gnosis” 1903-1908
GA 34

Automated Translation

54. On the Representation of Personal Conviction

Within our culture, a great deal of value is placed on what is called the courageous and bold expression of “personal conviction”. He who stands up for his own thoughts and opinions is considered to be full of character; he who does not, to be without it. One cannot respect a person who makes himself the mouthpiece of another. Of course, it would be absurd to object to such principles. The great demands that our time makes on the personality make it absolutely necessary for the personality to appear secure and firm. But a truly spiritual outlook on life must view such things from a higher point of view. It must demand self-reflection and self-knowledge, especially with regard to the highest virtues. It must be clear that just as the North Pole cannot exist without a South Pole, so the highest virtues cannot exist without their corresponding dark sides. And the dark side of “personal conviction” is obstinacy, it is insisting on “one's own thoughts”. As nice as it is to unreservedly defend one's opinion, it is just as necessary from a different point of view to accept the opinion of one's fellow human beings as completely equal. And how little this is in the character of the most convinced. They often show an intolerance of feeling and thinking that makes it impossible for them to truly engage with other opinions. Of course, they will almost always speak of tolerance. But they can hardly practice it. For it is not enough to recognize a principle, but to live it. Through practice one must absorb it. One should absorb inner tolerance, tolerance of thought, in strict self-discipline. And if one does it in the smallest things, it will ultimately become a basic trait of our whole present life.

Two things should be pointed out here. First, something quite mundane. Overhear a conversation. How often do we hear the little word “but”, hastily spoken. We have not yet taken in what the other person has said, we may not even have fully realized what is guiding him, and yet we are already ready to counter with our own opinion, with the “but”. Consciously, one should suppress such habits. One should practice quiet, reverent “listening”. Whether one believes it at first or not, only those who have practiced such “listening” a lot will achieve higher spiritual development.

And a second point: in a meeting, someone makes a suggestion. Immediately others are there with counterproposals. They believe that they absolutely must express their own opinion. One should rather make it a principle never to counter a foreign proposal without first seeking complete insight into the motives of the other proposal. One should always bear in mind that one is selfish after all when one loves an opinion because one has it oneself. “I can only advocate what I myself believe,” is a view that can be heard everywhere. And yet it is no less true that one should selflessly put oneself in the other's shoes, that one should first check before going into battle whether one really has better things to advocate than the other. Those who have attained a higher spiritual development have bought it through a sacrifice in this direction. They have imposed on themselves to merge completely in the opinions of their fellow human beings, to extinguish themselves in the innermost fibers of their soul, in order to be absorbed in the others. Only those who have learned to become selfless even in their most secret thoughts can become true mystics. One must have experience in such matters if one wants to claim anything. There is no better way to develop on the first steps of the spiritual ladder than to impose silence in one's deepest inner being for a while. I gain a great deal from letting myself be told once a month, or perhaps once a year: Now, quite modestly, I want to mean nothing myself, but selflessly let foreign opinions live inside me for a change. I want to completely immerse myself in foreign perceptions, feelings, thoughts. In this way I unselfishly expand my self, whereas I selfishly narrow it if I allow only my own opinions to play as waves on the surface of my life, from the depths of my self. Such a thought should take hold particularly among those who, in the spirit of our time, always have the word in their mouths: “personal conviction.”

54. Über das Vertreten der persönlichen Überzeugung

Mit Recht wird innerhalb unserer Kultur viel Wert darauf gelegt, was man mutiges, kühnes Vertreten der «persönlichen Überzeugung» nennt. Wer für seine eigenen Gedanken und Ansichten eintritt, gilt als charaktervoll; wer dies nicht tut, als charakterlos. Man kann einen Menschen nicht schätzen, der sich zum Sprachrohr eines anderen macht. Es wäre natürlich ein Unding, gegen solche Grundsätze etwas einzuwenden. Die großen Anforderungen, die unsere Zeit an die Persönlichkeit stellt, machen ein sicheres, festes Auftreten derselben zur unbedingten Notwendigkeit. Aber eine wahrhaft geistige Lebensauffassung muß solche Dinge von einem höheren Gesichtspunkte aus ansehen. Sie muß gerade gegenüber den höchsten Tugenden Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis fordern. Sie muß sich darüber klar sein, daß wie der Nordpol nicht ohne Südpol, so die höchsten Vorzüge nicht ohne die entsprechenden Schattenseiten sein können. Und die Schattenseite der «persönlichen Überzeugung» ist der Eigensinn, ist das Pochen auf die «eigenen Gedanken». So schön es ist, seine Meinung rückhaltlos zu vertreten, so notwendig ist es von einem anderen Gesichtspunkte, die Meinung des Mitmenschen als völlig gleichberechtigt gelten zu lassen. Und wie wenig liegt das gerade in dem Charakter der Überzeugungstreuesten. Gerade sie zeigen oft eine Intoleranz des Fühlens und Denkens, die es ihnen unmöglich macht, auch nur auf andere Meinungen wahrhaft einzugehen. Gewiß: sie werden Toleranz fast immer im Munde führen. Aber üben können sie sie kaum. Denn es kommt nicht darauf an, daß man einen Grundsatz anerkennt, sondern darauf, daß man ihn lebt. Man muß durch Übung sich in ihm einleiben. Innere Toleranz, Gedankentoleranz sollte man in strenger Selbstzucht sich einverleiben. Und wenn man es im kleinsten tut, so wird es zuletzt ein Grundzug unseres ganzen gegenwärtigen Lebens werden.

Auf zwei Dinge sei hier hingewiesen. Auf etwas ganz Alltägliches zuerst. Man belausche ein Gespräch. Wie oft wird man, vorschnell ausgesprochen, das Wörtchen «aber» hören. Man hat noch gar nicht auf sich wirken lassen, was der andere gesagt hat, man hat vielleicht sich gar nicht vollkommen zum Bewußtsein gebracht, was ihn leitet, und schon ist man bereit, die eigene Meinung mit dem «aber» entgegenzusetzen. Bewußt unterdrücken sollte man solche Angewöhnungen. Man sollte sich üben im stillen, ehrfürchtigen «Zuhören». Ob man es zunächst glaubt oder nicht: nur der kommt zu höherer geistiger Entwickelung, der solches «Zuhören» geübt, viel geübt hat.

Und ein zweites: in einer Versammlung macht jemand einen Vorschlag. Sogleich sind andere da mit Gegenvorschlägen. Sie glauben durchaus: sie müssen ihre eigene Meinung zum Ausdrucke bringen. Man sollte sich vielmehr zum Grundsatz machen: niemals einem fremden Vorschlag etwas entgegenzusetzen, wenn man nicht vorher vollkommene Einsicht in die Motive des anderen Vorschlages gesucht hat. Man sollte immer sich vor Augen halten, daß man doch egoistisch ist, wenn man eine Meinung deshalb liebt, weil man sie selbst hat. «Ich kann doch nur vertreten, was ich selbst glaube», das kann man allerwärts hören. Und doch ist es nicht minder richtig, daß man sich selbstlos in die Meinung des anderen versetzen soll, daß man — bevor man sich ins Feld führt, zuerst prüfen soll, ob man denn wirklich Besseres zu vertreten hat, als der andere. Diejenigen, welche eine höhere geistige Entwickelung erlangt haben, sie haben sie durch ein Opfer in dieser Richtung erkauft. Sie haben sich auferlegt, ganz in den Meinungen ihrer Mitmenschen aufzugehen, bis in die innersten Fasern ihrer Seele sich selbst auszulöschen, um in den anderen unterzugehen. Ein wahrer Mystiker kann nur werden, wer gelernt hat, bis in die geheimsten Gedanken hinein selbstlos zu werden. Man muß Erfahrung in solchen Dingen haben, wenn man etwas behaupten will. Durch weniges entwickelt man sich auf den ersten Stufen der geistigen Leiter mehr, als dadurch, daß man sich eine Zeitlang Schweigen in seinem tiefsten Innern auferlegt. Viel gewinne ich dadurch, daß ich Monate, vielleicht Jahre hindurch mir einmal gesagt sein lasse: Jetzt will ich, ganz bescheiden, gar nichts selbst meinen, sondern selbstlos einmal fremde Meinungen in meinem Innern leben lassen. Ich will ganz untertauchen in fremden Empfindungen, Gefühlen, Gedanken. Dadurch erweitere ich selbstlos mein Selbst, während ich es selbstsüchtig verengere, wenn ich fort und fort nur meine eigenen Meinungen aus dem Wesen meiner Selbst als Wellen an die Oberfläche meines Lebens spielen lasse. — Solches sollte als «Kontrollgedanke» besonders bei denen Platz greifen, welche — mit Recht - im Sinne unserer Zeit, immer das Wort im Munde führen: «persönliche Überzeugung».