Collected Essays on Literature 1884-1902
GA 32
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28. “The World View of Dostoyevsky and Tolstoy”
By R. Saitschik Neuwied 1893, August Schupp
I recently reported in this journal on Saitschik's pamphlet "Zur Psychologie der Gegenwart". I described the author as a man who has a keen sense of observation for the socio-psychological forces that dominate our present day. In this book, which I have just read, I also get to know a subtle observer of the individual soul. Two personalities, who in their dispositions and in their creations present themselves as perfect opposites, are characterized in a way that teaches us that in an age that is unable to produce any guiding work on psychology, there are nevertheless genuine psychologists. Only such a person can say about Dostoyevsky: "Dostoyevsky is the true Christian barbarian. He hates the Hellenic view of life with its harmonious superficiality at the bottom of his heart; to him it is a point of view that has long been overcome, a childish behavior, an unconscious game of youth." "Dostoyevsky does not love the surface of the human mind, on which the light of thought shimmers in dazzling colors; he descends into the depths, where no ray of bright sunlight penetrates, there he forms his views on nature and life, there he believes he has found the center of his world of thought, from there he comes to proclaim to man that he is born to suffer." Saitschick aptly demonstrates that Dostoyevsky's talent is not rooted in the laws of logic, but in the demonic regions of emotion, that the light of his descriptions bursts forth from a dark chaos of the soul. "Knowledge is the product of thought, that is, the embodied shadow of the absolute; Dostoyevsky is not content with the shadow, he wants the whole truth wrapped in flesh and blood." The nature of the mysticism that Dostoyevsky formed from this nature of his is and had to be developed in Saitschick's writing, which is as profound as it is convincing. No less is Dostoyevsky's political fantasy made comprehensible to us.
The true art of scientific observation does not lie in the formulation of general propositions, nor in the mindless collection of individual observational facts. It lies in the ability to immerse oneself in the individual with the help of the ideas that a deeper education provides, and thus to find the general, the spirit, in the individual. How to grasp the individual without losing oneself in everyday trivialities can be learned from Saitschick's explanations. He succeeds in exploiting Tolstoy's personal idiosyncrasies just as well as Dostoyevsky's. Saitschick never leaves the standpoint of the big perspective, but what he sees are not fogless, unclear entities, but living natural beings. He says of Tolstoy: "He sees deep into the heart of our sick society, he knows its every feverish pulse. Tolstoy is not a cold social physiologist like Balzac and Flaubert, a deeply living man speaks from Tolstoy's works, who does not shrink from the truth, who knows how to castigate, but also how to love sincerely." "Tolstoy's mysticism is not as tempestuous as Dostoyevsky's. Tolstoy's mysticism is a plastic mysticism. Dostoyevsky's mysticism is a heavy dream of Platonic ideas; beyond time and space, a beautiful, blissful dream is Tolstoy's view of the world. Dostoyevsky loves suffering so much that he suffers even in his sleep, whereas Tolstoy has suffered enough during the day and now wants to rest. The world he builds is a calm one; holy seriousness reigns in it, and deep love for humanity is the mystical foundation on which Tolstoy raises his worldview." Tolstoy's entire characterization is expressed in equally succinct sentences, which always get to the heart of the matter, and which absolutely justify the assertion that in Saitschick we see one of the best essayists developing.
28. «Die Weltanschauung Dostojewskis und Tolstois»
Von R. Saitschik Neuwied 1893, August Schupp
Vor kurzem habe ich in dieser Zeitschrift über Saitschicks Schriftchen «Zur Psychologie der Gegenwart» berichtet. Ich bezeichnete den Verfasser als einen Mann, der für die sozialpsychologischen Kräfte, von denen unsere Gegenwart beherrscht wird, eine feine Beobachtungsgabe hat. In dieser mir eben vorliegenden Schrift lerne ich nun auch einen feinsinnigen Beobachter der Individualseele kennen. Zwei Persönlichkeiten, die in ihren Anlagen und in ihren Schöpfungen sich als vollkommene Gegensätze darstellen, werden in einer Weise charakterisiert, die uns lehrt, dass es in einer Zeit, die kein orientierendes Werk über Psychologie hervorzubringen vermag, doch echte Psychologen gibt. Ein solcher nur kann über Dostojewski die Worte finden: «Dostojewski ist der echte christliche Barbar. Die hellenische Lebensauffassung mit ihrer harmonischen Oberflächlichkeit ist ihm im Grunde seines Herzens verhasst, sie ist ihm ein längst überwundener Standpunkt, ein kindliches Gebaren, ein unbewusstes Spiel der Jugend.» «Dostojewski liebt nicht die Oberfläche des menschlichen Geistes, auf der das Gedankenlicht in schillernden Farben schimmert; in die Tiefen lässt er sich herunter, wohin kein Strahl des hellen Sonnenlichtes dringt, dort formt er seine Anschauungen über Natur und Leben, dort wähnt er das Zentrum seiner Gedankenwelt gefunden zu haben, von dort her kommt er dem Menschen zu verkünden, dass er zum Leiden geboren sei.» Dass Dostojewskis Talent nicht da wurzelt, wo die Gesetze der Logik herrschen, sondern in den dämonischen Regionen des Gefühls, dass aus einem dunklen Seelenchaos das Licht seiner Schilderungen hervorbricht, stellt Saitschick ganz treffend dar. «Das Wissen ist das Produkt des Denkens, das heißt der verkörperte Schatten des Absoluten; Dostojewski begnügt sich nicht mit dem Schatten, er will die ganze Wahrheit in Fleisch und Blut gehüllt.» Welcher Art denn die Mystik ist und sein musste, die sich bei Dostojewski aus dieser seiner Natur bildete, ist in Saitschicks Schrift ebenso tief wie überzeugend entwickelt. Nicht weniger wird uns die politische Phantastik Dostojewskis begreiflich gemacht.
Die wahre Kunst wissenschaftlicher Betrachtungsweise besteht nicht in dem Aufstellen allgemeiner Sätze, aber auch nicht in dem geistlosen Auflesen einzelner Beobachtungstatsachen. Sie liegt in der Fähigkeit, mit Hilfe der /deen, die eine tiefere Bildung verleiht, sich in das Individuelle zu versenken, und so im Einzelsten das Allgemeine, den Geist zu finden. Wie man das Individuum zu erfassen hat, ohne sich in alltäglichen Nichtigkeiten zu verlieren, das kann man aus Saitschicks Ausführungen lernen. Es gelingt ihm das Persönlich-Eigentümliche Tolstois ebenso auszuschöpfen wie das Dostojewskis. Saitschick verlässt nie den Standpunkt der großen Perspektive, aber was er sieht, sind nicht nebellose unklare Gebilde, sondern lebendige Naturwesen. Von Tolstoi sagt er: «Er sieht tief in das Herz unserer kranken Gesellschaft, er kennt jeden ihrer fieberhaften Pulsschläge. Tolstoi ist kein kalter gesellschaftlicher Physiologe wie Balzac und Flaubert, ein tief lebender Mensch spricht aus den Werken Tolstois, der vor der Wahrheit nicht zurückschrickt, der wohl zu geißeln, aber dabei auch aufrichtig zu lieben versteht.» «Die Mystik Tolstois ist nicht so stürmisch wie diejenige Dostojewskis. Eine plastische Mystik ist die Mystik Tolstois. Der Mystizismus Dostojewskis ist ein schwerer Traum von platonischen Ideen; jenseits der Zeit und des Raumes, ein schöner, seliger Traum ist die Weltanschauung Tolstois. Dostojewski liebt so das Leiden, dass er auch im Schlafe leidet, Tolstoi hingegen hat genug am Tag gelitten und will nun ausruhen. Die Welt, die er errichtet, ist eine ruhige; heiliger Ernst herrscht in ihr, und tiefe Liebe zur Menschheit ist das mystische Fundament, auf welchem Tolstoi seine Weltanschauung erhebt.» Die ganze Charakteristik Tolstois verläuft in gleich lapidaren Sätzen, die immer die Sache in ihrem Zentrum erfassen, und die unbedingt zu der Behauptung berechtigen, dass wir in Saitschick einen der besten Essayisten sich entwickeln sehen.