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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Collected Essays on Cultural and Contemporary History 1887–1901
GA 31

Automated Translation

94. Kurt Eisner “Psychopathia Spiritualis. Friedrich Nietzsche and the Apostles of the Future”

A mind of such bold, grotesque thought as Friedrich Nietzsche's must necessarily evoke contradictory feelings in those who study it closely and lovingly. His unconditional admirers certainly understand the least of his proud ideas. But Kurt Eisner does not belong in this category. His admiration does not silence the contradiction that arises from his own significant individuality; not even the irony that Nietzsche's one-sidedness provokes. Alongside ruthlessly approving sentences such as: "Nietzsche's Zarathustra is only a work of art like Faust", or: "The songs of Zarathustra flow broadly and powerfully like Wagner's streams of music. Philosophy is here set to music, thought to sound, not evaporated, no, reheated", others say: "Nietzsche is a true reactionary, because his forward is a backward. And because he is a reactionary, the future will spurn him", or: "Nietzsche's doctrine rests on rotten ground, through his own fault". Eisner is quite sympathetic to Nietzsche's noble way of thinking, but not to its anti-democratic character. The development of the select few should not be bought at the price of the oppression and stultification of large masses. Eisner wanted to aristocratize the masses. "True aristocratism is only possible with true altruism." "Democracy must become a pan-aristocracy." In contrast to Nietzsche, Eisner wanted the community to be placed above the individual. "The herd instinct is health, the ego instinct is degeneration." Eisner counters Nietzsche's motto: "Get tough!" with "Get soft!". The former corresponds to the ruthless "through" of the individual's power content, the latter to the selfless striving of the personality, which also respects the person in the other individual as an equal.

With such a penetrating understanding of Nietzsche, with such an unbiased critique of the thinker-poet, Eisner's judgment of the "Nietzsche-affinity" can of course only be a completely devastating one. Nowhere has the herd-like nature of a following taken on such a characteristic character as in the Nietzsche herd. The contempt for the herd-like has become a wild herd roar. There has never been a more droll following than Nietzsche's. They, these howlers, do not know what the value of the master's works lies in. The secret lies in the fact that illnesses and deformities stimulate thought more than full, fresh health. The diseases of the mind make important contributions to psychology. The charm of Nietzsche's ideas lies in the abnormal guise in which they appear. Through outward appearances one becomes aware of many things that one would otherwise pass by. This is what happened to me with Nietzsche's ideas. Most of their content did not seem new to me. I had already formed it in me before I got to know Nietzsche. But as I went through Nietzsche's mind, these ideas seemed to me distorted, caricatured. A flow of thought that was healthy in itself had to force its way through a rocky cliff that did violence to its calm course. Nietzsche was never a philosophical problem for me, but always a psychological one.

Because this is my position on the strangest spirit of modern times, I must describe Kurt Eisner's writing as very sympathetic to me and recommend it to the widest circle of readers, even if I cannot agree with some of what it contains.

94. Kurt Eisner «Psychopathia Spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel Der Zukunft»

Ein Geist von so kühner, grotesker Gedankenrichtung, wie Friedrich Nietzsche es ist, muß notwendig widersprechende Empfindungen in denen hervorrufen, die sich genau und liebevoll mit ihm beschäftigen. Seine unbedingten Bewunderer verstehen gewiß am wenigsten von seinen stolzen Ideen. In diese Reihe gehört aber Kurt Eisner nicht. Seine Verehrung läßt den aus einer eigenen bedeutenden Individualität hervorbrechenden Widerspruch nicht verstummen; auch nicht einmal die Ironie, zu der Nietzsches Einseitigkeiten herausfordern. Neben rücksichtslos anerkennenden Sätzen, wie: «Nietzsches Zarathustra ist nur ein Kunstwerk wie Faust», oder: «Die Lieder Zarathustras fluten breit und gewaltig dahin wie Wagners Musikströme. Die Philosophie ist hier in Musik gesetzt, der Gedanke in Ton, nicht verflüchtigt, nein umgeglüht», finden sich andere: «Nietzsche ist ein echter Reaktionär, weil sein Vorwärts ein Rückwärts ist. Und weil er ein Reaktionär ist, so wird ihn die Zukunft verschmähen», oder: «Nietzsches Lehre ruht auf morschem Grund, durch seine eigene Schuld». Die vornehme Denkweise Nietzsches ist Eisner durchaus sympathisch, nicht aber der widerdemokratische Charakter derselben. Die Entwicklung der einzelnen Auserlesenen soll nicht mit der Unterdrückung und Versumpfung großer Massen erkauft werden. Eisner will die Masse aristokratisieren. «Wahrhafter Aristokratismus ist erst möglich bei wahrhaftem Altruismus.» «Die Demokratie muß zur Panaristokratie werden.» Eisner will im Gegensatz zu Nietzsche die Gemeinschaft über den Einzelnen gesetzt wissen. «Der Herdeninstinkt ist Gesundheit, der Ichinstinkt ist Entartung.» Der Nietzscheschen Devise: «Werdet hart!» setzt Eisner ein «Werdet weich!» entgegen. Jenes entspricht dem rücksichtslosen «Durch» des individuellen Machtinhaltes, dieses dem selbstlosen Streben der Persönlichkeit, die den Menschen auch im anderen Individuum als einen gleichwertigen achtet.

Bei solch durchdringendem Verständnis Nietzsches, bei solch unbefangener Kritik des Denker-Poeten kann Eisners Urteil über das «Nietzsche-Affentum» natürlich nur ein vollständig vernichtendes sein. Nirgends hat ja das Herdenartige einer Anhängerschaft ein so charakteristisches Gepräge angenommen wie bei der Nietzsche-Herde. Die Verachtung des Herdenhaften ist zum wüsten Herdengebrüll geworden. Es hat noch nie eine drolligere Gefolgschaft gegeben als die Nietzsches. Sie, diese Brüller, wissen ja alle nicht, worinnen der Wert von des Meisters Werken liegt. Das Geheimnis liegt darinnen, daß Krankheiten, Mißbildungen mehr zum Denken anregen als die volle frische Gesundheit. Die Krankheiten des Geistes liefern wichtige Beiträge zur Psychologie. Der Reiz von Nietzsches Ideen liegt in dem abnormen Gewande, in dem sie auftreten. Durch Äußerlichkeiten wird man auf manches aufmerksam, woran man sonst vorüberginge. Mir erging es mit Nietzsches Ideen folgendermaßen. Ihr Inhalt erschien mir zumeist nicht neu. Ich hatte ihn in mir schon ausgebildet, bevor ich Nietzsche kennenlernte. Beim Durchgange durch Nietzsches Geist kamen mir aber diese Ideen verzerrt, karikiert vor. Fin an sich gesunder Gedankenfluß mußte sich durch eine Felsenge durchdrängen, die seinem ruhigen Laufe Gewalt antat. Nietzsche war mir nie ein philosophisches, sondern immer ein psychologisches Problem.

Weil dies meine Stellung zu dem seltsamsten Geiste der Neuzeit ist, muß ich Kurt Eisners Schrift als eine mir sehr sympathische bezeichnen und sie dem weitesten Leserkreise empfehlen, wenn ich auch mit manchem in ihr Enthaltenen nicht übereinstimmen kann.