Collected Essays on Cultural and Contemporary History 1887–1901
GA 31
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56. Untimely Aspects of Grammar School Reform
There is now a lot of talk about grammar school reform. If you read the reports about negotiations on this matter, you get a strange impression. There is talk about all sorts of things, but little about the main issue. Whether or not a few more or fewer hours should be set aside for Latin and Greek lessons, whether the German essay should be cultivated in this or that way: there are endless debates about this. And yet these things are the most indifferent in the world. The main deficiency of our grammar school is palpable. It does absolutely nothing to bring its pupils to the point where they are able to grasp modern intellectual life.
Or is it not true that today's graduates are at a loss when faced with the actual basis of our view of the world and life, the modern scientific ideas? What Socrates taught, what Plato taught, what Caesar wrote, is not a living part of our intellectual life. What Darwin revealed, what modern physiology, physics and biology reveal, should become so.
I cannot think of underestimating the educational value of the Greeks and Romans. But I am of the opinion that the past only acquires the right value for the education of our time if it is seen from the perspective of the present. Anyone who does not know the content of our contemporary education can only have a skewed relationship with Socrates and Plato.
All teaching at grammar school should be filled with the spirit of the present. People who are imbued with this spirit should be the only teachers. Let it not be said that it makes no difference whether the teacher of Greek or Latin knows anything about modern science or not. In the spiritual life everything is connected. A modern mind will teach a thousand details differently than one who is rusty in classical philology and knows nothing but his "subject".
It would have unforeseeable consequences for our entire intellectual life if our grammar school pupils were educated according to the scientific world view of our time. Our entire public life would have to take on a different shape. We would be spared numerous discussions about the relationship between religion and science, faith and knowledge, etc. It would no longer be possible to put forward things that have long been dismissed from the standpoint of modern thought.
Do not argue that the views of the scientific worldview are for the most part still hypotheses that still need to be tested. Every doubt about them is justified. I would have to reply: this is true of every view, the old no less than the new. But we do not have the task of handing down convictions to our younger generation. We should teach them to use their own powers of judgment, their own powers of comprehension. They should learn to look at the world with open eyes.
Whether we doubt the truth of what we pass on to young people or not: it doesn't matter. Our beliefs are only for us. We teach them to young people to tell them: this is how we see the world; see how it presents itself to you. We should awaken skills, not pass on convictions.
Youth should not believe in our "truths", but in our personality. Adolescents should realize that we are seekers. And we should show them the ways of seekers. We tell our descendants how we come to terms with things and leave it up to them how they manage to do the same.
We must therefore not withhold from secondary school pupils the content of what we have gained as a replacement for the religious ideas we have overcome. They should not grow up with sentiments that contradict modern thinking.
Many will consider what I have said to be the figment of the imagination of a person who is so taken with the ideas of the scientific world view that he does not even realize how much he is overlooking the opposing feelings of others. That is not the point. Those others emphasize their demands. We want to do the same with ours. No Catholic bishop will shy away from reforming the school in his sense; we also want to express our opinion without consideration about the path that must lead to where we want the world to be. Moderation blunts the weapons.
56. Unzeitgemässes zur Gymnasialreform
Es ist jetzt viel von Gymnasialreform die Rede. Wenn man die Berichte über Verhandlungen liest, die über diese Sache geführt werden, bekommt man einen sonderbaren Eindruck. Es wird über alles mögliche gesprochen, über die Hauptsache aber wenig. Ob ein paar Stunden für den lateinischen und griechischen Unterricht mehr oder weniger angesetzt werden sollen oder nicht, ob der deutsche Aufsatz in dieser oder jener Weise gepflegt werden soll: darüber gibt es endlose Debatten. Und doch sind diese Dinge die gleichgültigsten der Welt. Der Hauptmangel unseres Gymnasiums ist mit Händen zu greifen. Es tut ganz und gar nichts dazu, seine Zöglinge bis zu dem Punkte zu bringen, an dem sie imstande sind, das moderne Geistesleben zu begreifen.
Oder ist es nicht richtig, daß der absolvierte Gymnasiast von heute ratlos gegenübersteht der eigentlichen Grundlage unserer Welt- und Lebensauffassung, den modernen naturwissenschaftlichen Ideen? Was Sokrates, was Plato gelehrt, was Cäsar geschrieben hat, ist kein lebendiger Bestandteil unseres Geisteslebens. Was Darwin geoffenbart, was die moderne Physiologie, Physik, Biologie enthüllen, sollte es werden.
Es fällt mir nicht ein, den Bildungswert der Griechen und Römer zu unterschätzen. Doch bin ich der Ansicht, daß das Vergangene nur dann für die Bildung unserer Zeit den rechten Wert erhält, wenn es aus dem Gesichtswinkel der Gegenwart gesehen wird. Wer den Inhalt unserer Zeitbildung nicht kennt, kann auch zu Sokrates und Plato nur in ein schiefes Verhältnis kommen.
Mit dem Geiste der Gegenwart müßte alles Lehren auf dem Gymnasium erfüllt sein. Menschen, die von diesem Geiste durchdrungen sind, sollten allein Lehrer sein. Man sage nicht, daß es gleichgültig sei, ob der Lehrer des Griechischen oder Lateinischen von moderner Naturwissenschaft etwas versteht oder nicht. Im Geistesleben hängt alles zusammen. Tausend Einzelheiten wird ein moderner Geist anders lehren als ein in der klassischen Philologie eingerosteter, der nichts kennt als sein «Fach».
Unabsehbare Konsequenzen für unser ganzes Geistesleben hätte es, wenn unsere Gymnasiasten im Sinne der naturwissenschaftlichen Weltauffassung unserer Zeit erzogen würden. Unser gesamtes öffentliches Leben müßte eine andere Gestalt annehmen. Zahlreiche Diskussionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, von Glauben und Wissen usw. würden uns erspart bleiben. Es würden nicht mehr Dinge vorgebracht werden können, die vom Standpunkte des modernen Denkens längst abgetan sind.
Man wende nicht ein: die Ansichten der naturwissenschaftlichen Weltanschauung seien zum größten Teile noch Hypothesen, die erst noch der Prüfung bedürfen. Ihnen gegenüber sei jeder Zweifel berechtigt. Ich müßte erwidern: das gilt jeder Ansicht gegenüber, der alten nicht minder als der neuen. Aber wir haben nicht die Aufgabe, unserer heranwachsenden Generation Überzeugungen zu überliefern. Wir sollen sie dazu bringen, ihre eigene Urteilskraft, ihr eigenes Auffassungsvermögen zu gebrauchen. Sie soll lernen, mit offenen Augen in die Welt zu sehen.
Ob wir an der Wahrheit dessen, was wir der Jugend überliefern, zweifeln oder nicht: darauf kommt es nicht an. Unsere Überzeugungen gelten nur für uns. Wir bringen sie der Jugend bei, um ihr zu sagen: so sehen wir die Welt an; seht zu, wie sie sich euch darstellt. Fähigkeiten sollen wir wecken, nicht Überzeugungen überliefern.
Nicht an unsere «Wahrheiten» soll die Jugend glauben, sondern an unsere Persönlichkeit. Daß wir Suchende sind, sollen die Heranwachsenden bemerken. Und auf die Wege der Suchenden sollen wir sie bringen. Wie wir mit den Dingen uns abfinden, sagen wir unsern Nachkommen und überlassen es ihnen, wie ihnen dasselbe gelingt.
Nicht vorenthalten dürfen wir den Gymnasiasten deshalb den Inhalt dessen, was wir als Ersatz der von uns überwundenen religiösen Vorstellungen gewonnen haben. Sie sollen nicht mit Empfindungen heranwachsen, die dem modernen Denken widersprechen.
Viele werden das von mir Gesagte für die Ausgeburt der Phantasie eines Menschen halten, der so sehr eingenommen ist von den Ideen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, daß er gar nicht bemerkt, wie sehr er damit die entgegengesetzten Empfindungen anderer übersieht. Darauf kommt es nicht an. Jene anderen betonen ihre Forderungen. Wir wollen dasselbe mit den unsrigen tun. Kein katholischer Bischof wird sich scheuen, die Schule in seinem Sinne zurück zu reformieren; wir wollen auch ohne Rücksicht unsere Meinung sagen über den Weg, der dahin führen muß, wo wir die Welt haben wollen. Mäßigung stumpft die Waffen.