Collected Essays on Philosophy, Science, Aesthetics and Psychology 1884–1901
GA 30
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70. Karl Frenzel
On his seventieth birthday
On December 6, Karl Frenzel celebrated his seventieth birthday. I don't like to publish the usual birthday articles on days like this. But I also don't like to keep quiet when my feelings want to speak out. I am not the right person to write a monograph or even a brief, accurate characterization of Karl Frenzel. Nevertheless, I believe that at the present moment I should offer Karl Frenzel the birthday greeting of this organ in the "Magazin für Literatur". He has grown together with the literary development of Germany like few others. We younger people have a very special relationship with writers like him. We have learned a great deal from them. We owe them the greatest gratitude. We feel that. And yet we cannot follow in their footsteps. We are their wayward sons. The fathers scold us. We love them, but we do not obey them. We are naughty and deserve the rod according to them. But we hope that our fathers will see that we will become something after all. I would also like to wish Karl Frenzel that he may be allowed to enjoy us. That may take a long time. But that he will still experience it, that is precisely what I wish for him.
I have benefited enormously from Frenzel's essays. I was often pleased with the directional critic. This joy was always mixed with something like envy. But envy is not the right word. But there is no better one. The critics of his generation knew what they wanted from an early age. They have "principles" that they apply to everything. We present-day people live from today to tomorrow. What we believe today, we will have overcome tomorrow. And what we said yesterday, we hardly understand today. Frenzel's contemporaries were settled people who had a fixed point of view from which they did not deviate one step to the right or left. We jump from point of view to point of view. We are seekers, doubters, questioners. They had a certain certainty. They knew the right path in art, in philosophy, in science, in politics. They were able to classify every new talent. We can't do all that. We hardly know any more whether a new book we read is important or not. We look at every talent from all sides, and then we usually know nothing at all. We have fallen into a real anarchy. We each have a different opinion about our greatest contemporaries.
Even when we are united in our admiration for a contemporary, we argue. One looks for meaning in this, the other in that.
I still remember how I looked up to Friedrich Theodor Vischer as a young man. Each of his sentences drilled into my soul like an arrow. And now I read him with completely different feelings. He only interests me now, but he no longer warms me. He has become a stranger to me.
Some may find it irreverent that I am offering these words as a birthday greeting to the septuagenarian. But there is something that unites us in that we understand each other: that is mutual sincerity. We want to be true to each other. We don't want to delude ourselves with phrases. We want to tell our fathers that we honor them, that they inspire the highest respect in us. But we also want to tell them that we want to go other ways. Piety is certainly a virtue, but it sucks the strength out of people. And we need the strength because we see new tasks ahead of us.
It was a beautiful time when Karl Frenzel was working; a time full of mature ideas, full of perfect art. Those with whom he experienced his manhood were self-contained, harmonious natures. They were also happier than we are because of this. They expected more from their ideals than we do from ours. They derived more happiness from these ideals. They were greater idealists. We are as afraid of ideals as we are of deceptive illusions. We no longer utter the soothing words: the idea must triumph!
Karl Frenzel
Zu seinem siebzigsten Geburtstage
Am 6. Dezember feierte Karl Frenzel seinen siebzigsten Geburtstag. Ich liebe es nicht, an solchen Tagen die üblichen Geburtstagsartikel zu bringen. Aber ich schweige auch nicht gerne, wenn mein Gefühl sich aussprechen will. Um eine Monographie oder auch nur eine kurze zutreffende Charakteristik über Karl Frenzel zu schreiben, bin ich nicht der richtige Mann. Dennoch glaube ich, daß im gegenwärtigen Augenblicke gerade ich im «Magazin für Literatur» Karl Frenzel den Geburtstagsgruß dieses Organs darbringen soll. Er ist mit der literarischen Entwickelung Deutschlands verwachsen wie wenige. Wir Jüngeren stehen zu Schriftstellern, wie er ist, in einem ganz eigentümlichen Verhältnis. Wir haben von ihnen sehr viel gelernt. Wir sind ihnen den größten Dank schuldig. Wir fühlen das. Und doch können wir nicht ihre Bahnen gehen. Wir sind ihre ungeratenen Söhne. Die Väter schelten uns. Wir lieben sie, aber wir gehorchen ihnen nicht. Wir sind ungezogen und verdienen nach ihrer Ansicht die Rute. Aber wir wünschen, daß unsere Väter sehen mögen, daß aus uns Ungeratenen doch noch etwas wird. Auch von Karl Frenzel möchte ich wünschen, daß es ihm gegönnt sein möge, an uns noch Freude zu erleben. Das wird vielleicht etwas lange dauern. Aber daß er es dann noch miterlebe, das ist es gerade, was ich ihm wünsche.
Ich habe aus Frenzels Essays ungeheuren Nutzen gezogen. Ich habe mich oft über den richtungsicheren Kritiker gefreut. In diese Freude mischte sich nur immer etwas wie — Neid. Doch ist Neid nicht das richtige Wort. Es gibt aber kein besseres. Die Kritiker seiner Generation wußten von Kindesbeinen an, was sie wollten. Sie haben «Prinzipien», die sie auf alles anwenden. Wir Gegenwärtigen leben von heute auf morgen. Was wir heute glauben, ist morgen für uns überwunden. Und was wir gestern gesagt haben, verstehen wir heute kaum mehr. Frenzels Altersgenossen waren gesetzte Leute, die einen festen Standpunkt hatten, von dem sie nicht einen Schritt nach rechts oder links abwichen. Wir springen von Standpunkt zu Standpunkt. Wir sind Suchende, Zweifelnde, Fragende. Sie hatten eine gewisse Sicherheit. Welches der rechte Weg in der Kunst, in der Philosophie, in der Wissenschaft, in der Politik ist, das wußten sie. Jedes neue Talent konnten sie einreihen. Wir können das alles nicht. Wir wissen fast nicht mehr, ob ein neues Buch, das wir lesen, bedeutend ist oder nicht. Wir sehen uns jedes Talent von allen Seiten an, und dann wissen wir zumeist gar nichts. Wir sind in eine rechte Anarchie hineingeraten. Über unsere größten Zeitgenossen haben wir jeder eine andere Meinung.
Selbst wenn wir einig sind in der Verehrung für einen Zeitgenossen, so streiten wir uns. Der eine sucht in dem, der andere in jenem seine Bedeutung.
Ich erinnere mich noch, wie ich als Jüngling zu Friedrich Theodor Vischer aufblickte. Jeder seiner Sätze bohrte sich wie ein Pfeil in meine Seele. Und jetzt lese ich ihn mit ganz anderen Gefühlen. Er interessiert mich nur mehr, aber er erwärmt mich nicht mehr. Er ist mir fremd geworden.
Vielleicht finden es manche pietätlos, daß ich diese Worte als Geburtstagsgruß dem Siebzigjährigen darbringe. Aber es verbindet uns doch etwas, indem wir uns verstehen: das ist gegenseitige Aufrichtigkeit. Wahr wollen wir gegeneinander sein. Wir wollen uns keine Phrasen vormachen. Wir wollen unseren Vätern sagen, daß wir sie verehren, daß sie uns die höchste Achtung einflößen. Aber wir wollen ihnen auch sagen, daß wir andere Wege gehen wollen. Die Pietät ist gewiß eine Tugend, aber sie saugt die Kraft aus dem Menschen. Und wir brauchen die Kraft, weil wir neue Aufgaben vor uns sehen.
Es war eine schöne Zeit, in der Karl Frenzel wirkte; eine Zeit voll von reifen Ideen, voll von vollendeter Kunst. In sich abgeschlossene, harmonische Naturen waren diejenigen, mit denen er die Mannesjahre zugleich erlebte. Sie waren auch deswegen glücklicher als wir. Sie versprachen sich mehr von ihren Idealen als wir von den unsrigen. Sie sogen mehr Lebensheiterkeit aus diesen Idealen. Sie waren eben größere Idealisten. Wir fürchten uns vor Idealen wie vor täuschenden Trugbildern. Wir sprechen nicht mehr die beseligenden Worte: die Idee muß doch siegen!