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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Collected Essays on Philosophy, Science, Aesthetics and Psychology 1884–1901
GA 30

Automated Translation

52. Karl Bleibtreu - Last Truths

Leipzig 1892

If anyone, as would seem justified by the title, were looking for the results of philosophical considerations in this book, he would be sorely mistaken. One will find views such as those put forward by the whim and arbitrariness of a witty man who shies away from serious, calm thinking, but one will also feel offended by the imposition of having to accept the most subjective talk in matters about which only reason, which has worked its way to the highest possible degree of objectivity, should speak. Bleibtreu says everything he likes about the nature of man, about sexual relations and love, about marriage and family life, about genius, about intellect and will, about criminal law and socialism, without any further qualms about the fact that personal preference for a view is not yet a criterion of its truth. I am not philistine enough to accuse Mr. Bleibtreu of blunting the feeling for conscientiousness in the great questions of life and the world through writings such as his, and perhaps I enjoyed myself too much while reading them. I also quite liked some of the witty, half-true, quarter-true and eighth-true assertions. But the book is bad because Mr. Bleibtreu has no idea that every thing has many pages. The opposite of every sentence he writes is also true. A German writer who does not know this seems like a relic from the last century. Ever since the Germans have had a philosophy and Goethe's works, they have known that one point of the eye is not enough to look at a thing, but that one must walk around it and look at it from all sides. It is splendid what Mr. Bleibtreu says about genius, that it is its own standard, that it cannot exist without a self-confidence that almost reaches the point of megalomania; but this only illuminates the essence of genius from one side, and that always produces a distorted image, a caricature. Bleibtreu is a caricaturist of "ultimate truths". He advocates monogamy with dissolution of marriage. The children should belong to the mother. He considers fatherly love to be hypocrisy. He who says A must also say B. In this case that means: whoever demands things like Bleibtreu must also describe the social conditions under which they are possible. Bleibtreu asserts the relationship between genius and insanity following Lombroso. He even wants to formulate the matter more precisely: Under unfavorable circumstances, insanity occurs wherever genius occurs under favorable circumstances. Has Mr. Bleibtreu never heard that genius has also developed under the most unfavorable circumstances? Or does he simply say: yes, then these circumstances were only seemingly unfavorable, but in reality they were favorable to genius, which was strengthened all the more by this or that difficulty? One could, of course, justify any sentence in this way. Incidentally, Bleibtreu's reasons are not very different in value from these. All in all, Bleibtreu's book would only make sense if the author were a god and his assertions were divine commandments, a kind of revelation that the rest of humanity would simply have to accept without criticism. We do not consider Mr. Bleibtreu to be a god, but his book to be amusing, amateurish writing.

Karl Bleibtreu - Letzte Wahrheiten

Leipzig 1892

Wenn jemand, wie es nach dem Titel gerechtfertigt erschiene, in diesem Buche die Resultate philosophischer Erwägungen suchte, so wird er sich arg getäuscht sehen. Ansichten wird man finden, wie sie Laune und Willkür eines geistreichen, aber den Ernst ruhigen Denkens scheuenden Mannes aufstellen, aber man wird sich auch beleidigt fühlen über die Zumutung, das allersubjektivste Gerede in Dingen hinnehmen zu sollen, worüber nur die Vernunft sprechen sollte, die sich bis zu einem möglichst hohen Grade der Objektivität durchgearbeitet hat. Bleibtreu spricht über das Wesen des Menschen, über Geschlechtsverhältnis und Liebe, über Ehe und Familienleben, über das Genie, über Intellekt und Wille, über Strafgesetz und Sozialismus alles aus, was ihm gefällt, ohne sich weiter darüber Skrupeln zu machen, daß persönliche Vorliebe für eine Ansicht doch noch kein Kriterium ihrer Wahrheit ist. Herrn Bleibtreu vorzuwerfen, daß durch solche Schriften, wie die seinige es ist, das Gefühl für die Gewissenhaftigkeit in den großen Lebens- und Weltfragen abgestumpft wird, dazu bin ich nicht Philister genug, habe mich auch vielleicht beim Lesen derselben zu gut amüsiert. Auch mir hat manche geistreichelnde, halb-, viertel- und achtelwahre Behauptung ganz gut gefallen. Aber das Buch ist doch schlecht, und zwar deshalb, weil Herr Bleibtreu keine Ahnung davon hat, daß ein jeglich Ding viele Seiten hat. Von jedem Satze, den er aufstellt, ist auch das Gegenteil wahr. Ein deutscher Schriftsteller, der das nicht weiß, erscheint wie ein Überbleibsel aus dem. vorigen Jahrhundert. Seit die Deutschen eine Philosophie und Goethes Werke haben, wissen sie, daß ein Augpunkt nicht genügt, um ein Ding zu betrachten, sondern daß man um dasselbe herumgehen und es von allen Seiten ansehen muß. Es ist ja prächtig, was Herr Bleibtreu vom Genie sagt, daß es sein eigener Maßstab ist, daß es ohne ein fast bis zum Größenwahn gehendes Selbstbewußtsein nicht bestehen kann; aber damit ist das Wesen des Genies nur von einer Seite beleuchtet, und das gibt immer ein Zerrbild, eine Karikatur. Bleibtreu ist ein Karikaturenzeichner der «letzten Wahrheiten». Er tritt für Monogamie mit Auflöslichkeit der Ehe ein. Die Kinder sollen der Mutter gehören. Vaterliebe hält er für Heuchelei. Wer A sagt, der muß auch B sagen. Das heißt in diesem Falle: wer Dinge wie Bleibtreu fordert, muß uns auch die sozialen Verhältnisse schildern, unter denen dieselben möglich sind. Die Verwandtschaft von Genie und Irrsinn behauptet Bleibtreu im Anschlusse an Lombroso. Er will die Sache sogar genauer formulieren: Unter ungünstigen Umständen tritt überall da Ikrsinn ein, wo unter günstigen Umständen Genialität. Hat denn Herr Bleibtreu nie gehört, daß sich die Genialität auch unter den ungünstigsten Umständen entwickelt hat? Oder sagt er einfach: ja, dann waren diese Umstände nur scheinbar ungünstig; in Wahrheit aber gerade dem Genie günstig, das durch diese oder jene Schwierigkeit erst recht gestählt wurde? Auf diese Weise könnte man natürlich jeden beliebigen Satz begründen. Bleibtreus Gründe unterscheiden sich an Wert übrigens nicht sehr von diesen. Alles in allem: Bleibtreus Buch hätte nur dann einen Sinn, wenn der Verfasser ein Gott und seine Behauptungen göttliche Gebote wären, eine Art von Offenbarungen, welche die übrige Menschheit einfach kritiklos hinnehmen müßte. Wir halten den Herrn Bleibtreu für keinen Gott, sein Buch aber für amüsantes, dilettantenhaftes Geschreibsel.