Collected Essays on Philosophy, Science, Aesthetics and Psychology 1884–1901
GA 30
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51. Franz Brentano - The Genius
Lecture given in the hall of the Association of Engineers and Architects in Vienna. Leipzig 1892
Much has been written about genius in recent times. In particular, Lombroso's book "Genius and Madness" has caused quite a stir in wider circles. With comprehensive expertise, the Italian scholar examines all the cases in which ingenious expressions of the human mind border on the uncanny realm of mental disorders. A number of the greatest minds either showed signs of insanity in the prime of their endeavors or fell into madness at the end of their lives. This would lead to the assumption that genius is not a stage in the development of the healthy human mind, but an abnormal manifestation of it. This opinion seems to be gaining more and more adherents. Eduard von Hartmann's view differs from this. According to this view, genius, in contrast to fully conscious, intellectual mental activity, lies in the unfolding of elements that rest in the unconscious womb of the soul. Only he in whom these elements work their way up from these mysterious depths into the sphere of the spirit produces genius. If Hartmann characterizes genius in this way as something quite normal, he nevertheless sees it as something qualitatively different from the talent of the normal human being. Brentano is opposed to both of these views. It sees in the work of genius only a quantitative increase of that activity of the mind which every average person continually accomplishes. The mental functions of the ordinary person: perception, apperception, reproduction and combination are only carried out more easily, more quickly and in a way that corresponds more closely to the content of things than is the case with the majority of individuals. The genius is more receptive to secret relationships between things than the average person. What the latter only discovers through painstaking research, the latter penetrates at first sight. Brentano seeks to prove that the creations of Newton, Kant, Goethe and Mozart arose only from this heightening of the intellectual faculties. These explanations are suitable for raising the consciousness of the average person. They aim to bridge the gap that is assumed to exist between first and second-rate minds. It seems to us, however, that the question is not quite the right one. Genius appears to us to be the content-creating faculty of the mind and to form the antithesis of merely formal intellectual activity. Both faculties are present in every human spirit; in the one the first predominates, in the other the second. We call genius a person in whom the content-creating faculty is developed to an outstanding degree. Genius does not appear to us as an enhancement of formal abilities, but as a prominent development of a particular side of the mind that is only slightly developed in the majority of people.
Franz Brentano - Das Genie
Vortrag, gehalten im Saale des Ingenieur- und Architektenvereins in Wien. Leipzig 1892
Über das Genie ist in letzter Zeit vieles geschrieben worden. In weiteren Kreisen hat namentlich Lombrosos Buch: «Genie und Irrsinn» großes Aufsehen gemacht. Mit umfassender Sachkenntnis sucht der italienische Gelehrte alle die Fälle auf, in denen geniale Äußerungen des menschlichen Geistes an das unheimliche Gebiet der Geistesstörungen grenzen. Eine Reihe der größten Geister zeigten entweder in der Blüte ihres Strebens Irrsinnserscheinungen oder verfielen dem Wahnsinne am Abende ihres Lebens. Das würde zu der Annahme führen, daß Genialität nicht eine Entwickelungsstufe des gesunden menschlichen Geistes ist, sondern eine abnorme Erscheinung desselben. Diese Meinung scheint immer mehr Anhänger für sich zu gewinnen. Abweichend davon ist Eduard von Hartmanns Ansicht. Nach derselben liegt das Genie, im Gegensatz zur vollbewußten, verstandesmäßigen Geistestätigkeit, in einem Entfalten von Elementen, die im unbewußten Mutterschoße der Seele ruhen. Nur derjenige, bei dem diese Elemente aus diesen geheimnisvollen Tiefen herauf sich in die Sphäre des Geistes arbeiten, bringt Geniales hervor. Charakterisiert Hartmann auf diese Weise das Genie als etwas durchaus Normales, so sieht er es doch aber als ein von der Begabung des normalen Menschen qualitativ Verschiedenes an. Beiden hiermit angedeuteten Anschauungen steht diejenige Brentanos ablehnend gegenüber. Sie sieht in dem genialen Schaffen nur eine quantitative Steigerung derjenigen Tätigkeit des Geistes, die jeder Durchschnittsmensch fortwährend vollbringt. Die geistigen Funktionen des gewöhnlichen Menschen: Perzeption, Apperzeption, Reproduktion und Kombination vollziehen sich beim Genie nur leichter, rascher und in einer Weise, die dem Inhalt der Sachen mehr entspricht, als das bei der Mehrzahl der Individuen der Fall ist. Das Genie ist für geheime Beziehungen der Dinge zueinander empfänglicher als der Durchschnittsmensch. Was dieser erst auf dem mühevollen Wege eifrigen Forschens entdeckt, durchdringt jenes auf den ersten Blick. Brentano sucht nachzuweisen, daß nur aus dieser Steigerung der geistigen Vermögen die Schöpfungen Newtons, Kants, Goethes und Mozarts entsprungen sind. Diese Ausführungen sind geeignet, das Bewußtsein des Durchschnittsmenschen zu heben. Sie wollen die Kluft aus der Welt schaffen, die man zwischen Geistern ersten und zweiten Ranges annimmt. Uns scheint aber die Fragestellung keine ganz richtige zu sein. Genialität erscheint uns als das inhaltschaffende Vermögen des Geistes und den Gegensatz zu bilden zu der bloß formalen Verstandestätigkeit. Beide Vermögen sind in jedem Menschengeiste vorhanden; bei dem einen überwiegt das erste, bei dem andern das zweite. Genie nennen wir einen Menschen, bei dem das inhaltschaffende Vermögen in hervorragendem Maße ausgebildet ist. Nicht als Steigerung der formalen Anlagen erscheint uns die Genialität, sondern als eine hervorstehende Ausbildung einer besonderen Seite des Geistes, die bei der Mehrzahl der Menschen nur wenig entwickelt ist.